Der Mann mit dem Fagott
hat und der nun sein Schicksal zum Guten wenden sollte - wenn das, was in diesem Brief stand, stimmte.
Seit er diese Zeilen zum ersten Mal gelesen hatte, hatte er wieder eine Hoffnung und vielleicht so etwas wie eine Zukunft.
Und diese Zukunft und Hoffnung lagen in London. Dort stand auf der Rothschild Bank Geld für ihn bereit. Und dort hatte sein alter Onkel Pjotr schon vor vielen Jahrzehnten einen russischen
Antiquitätenladen eröffnet, in dem er hoffentlich Zuflucht und Arbeit finden wird.
Der Mann vergewissert sich, daß alles, was er mitnehmen will, eingepackt ist, dann schließt er sorgfältig die beiden Lederriemen des Koffers, schiebt ihn unter seine Hängematte, bedeckt ihn mit seinem Seesack, den er zurücklassen wird. Noch darf niemand merken, was er vorhat. Er gehört nicht zu jenen Privilegierten, die von Rußland ausgewiesen oder mit Papieren ausgestattet werden. Seit Stalin an der Macht ist, ist dieser erlesene Kreis ohnehin noch viel weiter eingeschränkt worden. Darauf zu warten würde bedeuten, sein Leben, seine einzige Chance auf Freiheit zu verschwenden, und so hat er den Plan gefaßt, auf einem Handelsschiff wie diesem anzuheuern und auf die Gelegenheit zur Flucht zu warten. Morgen wird sie nach Monaten an Bord und Jahren des Wartens endlich kommen. Er ist kein junger Mann mehr, aber doch noch nicht zu alt für einen Neubeginn. Jedenfalls ist er zu jung, um in einem unter den Roten erstarrten Rußland als Bettler lebendig begraben zu sein. Dann wäre es schon besser, richtig begraben zu sein, wenn er auf der Flucht nicht überlebt. Hauptsache, sie fangen ihn nicht lebend. Sibirien, das wäre die schlimmste aller Möglichkeiten, aber das Risiko muß er eingehen. Es scheint ihm berechenbar zu sein: Das Schiff wird nicht besonders bewacht, seine Kollegen vertrauen ihm, die Faszination des Hafens, das bunte Treiben, das dort herrschen wird, wird ein übriges tun. Wenn er Glück hat, kann es Stunden dauern, bis man sein Verschwinden überhaupt bemerkt.
Es ist seine einzige Chance, und er glaubt fest an sie.
Der Mann sieht sich noch einmal um. Dann steigt er die schmale Eisentreppe empor auf das untere Deck und wundert sich über seine festen Schritte. Innerlich ist er aufgewühlt wie selten in seinem Leben, doch sein Körper bleibt ganz ruhig. Kein Zittern, kein schweres Atmen, kein rasender Herzschlag. Nur eine merkwürdig geschärfte Aufmerksamkeit. Konzentration. Beinahe ist er sich selbst fremd in diesen Stunden. Es ist ein seltsamer Abend, eine seltsame Nacht inmitten eines seltsamen Lebens.
Die frische Seeluft läßt ihn den Mantel fester um seine Schultern ziehen. Der Tag erwacht bereits mit dem silbrigen Licht des grauenden Morgens. Vor ihm die Lichter Liverpools. Sie halten direkt
darauf zu. Die See ist ruhig. Bald werden die Lotsenboote sich nähern und die Maxim Gorkij sicher in den Hafen geleiten.
Vom Deck über ihm plötzlich leise spontaner Gesang. Einige der Passagiere haben »God Save The King« angestimmt, die Hymne ihrer neuen Heimat. Der Mann kennt die Töne. Es ist auch die Melodie seiner eigenen Hoffnung. Bewegt lauscht er ihr, doch er bleibt stumm. Noch hat England ihm nichts versprochen, noch wäre es zu früh, das Land als seine neue Heimat zu begrüßen.
Vor ihm taucht die aufgehende Sonne den Horizont, die beinahe schon zu erahnende Skyline der Stadt in rotes Licht. Hier wird er die Flucht wagen. Freiheit, Sibirien oder Tod, sein Schicksal wird sich in wenigen Stunden entscheiden. Der Mann blickt lange in den aufgehenden Schein des Tages, der sein neues Leben birgt. Sein Mantel weht im Wind. Dann versinkt das Schiff wieder in einer der dahintreibenden Nebelbänke, nur das weithin tragende Horn der Maxim Gorkij ist zu hören, beinahe wie der tiefe, geheimnisvolle Ton eines fernen Fagotts.
27. KAPITEL
Zeitsprünge
Der Kieselstein - Hollywood, Santa Monica Beach, 14. November 1980
Die Klänge eines Saxophons gehen beinahe im Tosen des Meeres unter. Ein junger Mann in Shorts, T-Shirt und Baseballmütze spielt gegen die Urgewalt des Pazifiks an. Vor ihm im Sand ein Saxophonkoffer, in dem einige Münzen liegen. Mächtige Wellen rollen heran, brechen sich am Strand, laufen sanft am Ufer aus. Der junge Mann spielt »It Had To Be You«, er spielt erstaunlich gut. Sicher ein Musikstudent, denke ich mir und lege einen Dollarschein in seinen Koffer.
Der Strand ist ungewöhnlich ruhig um diese Jahreszeit. Einige Surfer sind auf der Suche nach der größten Welle, vereinzelt
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