Der Mann mit dem Fagott
Durchspielen höre ich - bei allen Fehlern und Unklarheiten zwischendurch - wie das Stück zu leben beginnt und sich erfüllt.
Aus dem Regieraum konzentrierte Anweisungen über Kopfhörer. Die drei Stunden vergehen wie im Fluge, sind ausgeschöpft bis zur buchstäblich letzten Minute. Die letzten Takte. Das Orchester bäumt sich ein letztes Mal auf, blüht im G-Moll-Thema, reißt dann ab. In die Stille mein Klavier-Arpeggio auf den Tönen Fis, G, A, B, Cis und D abgelöst von einem mächtigen Paukenwirbel, dann der peitschende Schlußakkord. Gespannte Stille, dann über Kopfhörer: »Okay! Phantastisch! Vielen Dank.«
Klappernde Streicherbögen, Händeschütteln, gegenseitiger Dank. Langsam fällt die Spannung von mir ab. Freddy kommt von irgendwoher auf mich zu, umarmt mich. »Damit wirst du neue Zeichen setzen!«
Meine Eltern etwas schüchtern auf ihren Plätzen. Ich gehe auf sie zu. Mein Vater sieht mir in die Augen. »Junge, du weißt nicht, was du uns damit heute geschenkt hast. Ich habe Apollo wiedergesehen!«
26. KAPITEL
Auf See vor Liverpool, 28. Mai 1925
»God Save The King«
Ruhig gleitet die »Maxim Gorkij« durch die sternklare Nacht. Einzelne Nebelbänke werden von einer leichten Brise über die Oberfläche des Wassers getrieben und lassen die Konturen des Schiffes immer wieder minutenlang verschwimmen - beinahe einem Geisterschiff gleich, das in eine Fabelwelt abgleitet und wieder aus ihr erscheint.
Noch etwa 60 Seemeilen bis Liverpool.
Es ist die längste Reise, die das russische Handelsschiff seit langem zurückgelegt hat. Seit vor etwas mehr als einem Jahr Lenin gestorben und Stalin an die Macht gekommen ist, betreibt Rußland kaum noch internationale Geschäfte, und die Handelsschiffe, die früher die Welt bereisten, ziehen ihre Routen meist nur noch von Odessa - dem traditionellen Handelshafen des Landes - aus durch das schwarze Meer - und manchmal ein kleines Stück durch den Bosporus nach Istanbul, ins Marmarameer oder ganz selten gar noch durch die Dardanellen ins Mittelmeer, um Kyrenia auf Zypern oder Alexandria anzulaufen. Seit langen Monaten ist es das erste Mal, daß die »Maxim Gorkij« mit ihrer Fracht aus Baumwolle und Wolle, Zucker, Zement, sowie riesigen Kisten mit Krimsekt, Saratow-Senf und Kaviar den Atlantik befahren, den Sankt-Georgs-Kanal passiert und nun nach zwanzig Tagen Fahrt die Irische See erreicht hat. Seit zwei Tagen gleiten sie die englische Küste entlang, haben die Lichter und Steilküsten Cornwalls und Wales’ gesehen und werden nun bald am Ziel sein.
Das Schiff macht gute Fahrt. Eigentlich ist es ein alter, schon etwas angerosteter Seelenverkäufer, aber er leistet noch gute Dienste. Bei voller Fahrt macht die Maxim Gorkij noch ihre zwölf Knoten, aber es ist besser, die Maschinen zu schonen, und so gleitet sie mit zehn Knoten vorbei an der Landzunge von Anglesey und hält in östlicher Richtung direkt auf Liverpool zu. Wenn es weiter so gut vorangeht, wird man den Hafen in etwa vier bis fünf Stunden bei Tagesanbruch erreichen.
Zwölf Passagiere sind an Bord. Russische Emigranten, Künstler, Intellektuelle, die man des Landes verwiesen hat oder die sich sonst irgendwie eine Ausreiseerlaubnis beschaffen und sich die Schiffspassage leisten konnten, verbringen eine schlaflose Nacht damit, nach ihrer neuen Heimat Ausschau zu halten und die bevorstehende Ankunft gebührend zu feiern.
Unter Deck, weit im Bauch der »Maxim Gorkij«, dort, wo man das Dröhnen und Vibrieren der Dampfmaschinen heftiger spürt als seinen eigenen Herzschlag, ist ein Mann dabei, seine wenigen Habseligkeiten zu ordnen. Das meiste wird er zurücklassen. Nur seinen kleinen braunen, etwas abgenutzten Handkoffer mit den Messingbeschlägen wird er mit sich nehmen. Sorgsam streicht er den Saum seines darin gefalteten Gehrocks glatt, wirft einen prüfenden Blick auf seinen zerknitterten Zylinder, ehe er ihn wieder zurücklegt, nimmt behutsam sein Fagott auseinander, legt es so zwischen die Kleidung, daß es so gut wie möglich von ihr geschützt wird, legt ein paar Photographien dazu und obenauf den Brief, der ihm Glück und ein neues Leben bringen soll. Es sind jene Zeilen, die ihn seit mehr als vier Jahren begleiten, seit dieser merkwürdige Kropotkin mit dem großen Muttermal auf der linken Wange sie ihm in der Moskauer Junker-Bank übergeben hat. Es sind die Zeilen dieses geheimnisvollen Heinrich Bockelmann, dessen Wege er nur zweimal im Leben gekreuzt, den er gar nur einmal gesprochen
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