Der Mann mit dem Fagott
ihn besonders, im Herkunftsland seiner Familie, eine Vereinigung zwischen deutscher und russischer Kultur, wie in seinem eigenen Leben. Das hat er so noch nie empfunden, und Heinrich stellt stolz fest, daß sein Ältester bereits eine ganz neue Art von National- und Kulturbewußtsein entwickelt, ein doppeltes Heimatgefühl gegenüber zwei Kulturnationen, die er in seiner Seele vereint, wie Heinrich selbst.
Rudi hat vor allem die Musik beeindruckt. Er hat einen Entschluß gefaßt, erklärt mit großen Augen und feierlichem Ernst: »Papa, ich möchte auch Musiker werden! - Wenn ich fleißig weiter Klavier übe, dann kann ich später ja vielleicht auch so schöne Musik machen wie der Tschaikowskij, und ganz viele Tänzer tanzen dazu …«
Heinrich Bockelmann lächelt nachsichtig. Er legt einen Arm um seinen Zweitgeborenen, drückt ihn an sich. »Na, Rudjascha, nun setz dir mal lieber keine Flausen in den Kopf! Du spielst zu deiner und unserer Freude. Aber als Beruf machen das nur Verrückte und Genies.«
Rudi nickt folgsam und ein wenig enttäuscht. Aber er muß die Sache mit dem Beruf ja auch noch nicht heute entscheiden. Vielleicht kann er ja auch Schriftsteller werden wie Goethe oder Lokomotivführer in einem dieser neuen schönen Züge oder Pferde züchten wie sein Onkel Roman Lehmann oder Chauffeur werden wie Wasja, das mußte aufregend sein! Aber Musik, das wäre schon das allerschönste. Er wird seinen Vater um die Noten von »Schwanensee« bitten. Vielleicht kann er ja einiges davon schon lernen.
Es war das schönste Märchen, das er je gehört hatte. Und die Liebe hatte über das Böse gesiegt. Immer noch ist er zornig auf den gemeinen Rotbart, die Macht der Finsternis, vor der Apollo die Menschheit beschützt. Er versteht jetzt noch viel besser, was sein Vater damit gemeint hat.
Wera hört ihm gar nicht zu. Sie ist viel zu sehr damit beschäftigt, den, wie sie unentwegt betont, »grandiosen« Tänzerinnen und Tänzern zu applaudieren, die immer wieder vor den Vorhang treten, hat vor Freude ganz rote Wangen bekommen, und ihre Augen strahlen.
Als der Vorhang sich wirklich zum letzten Mal schließt, nimmt Rudi seinem Vater das Versprechen ab, daß er in Zukunft noch ganz, ganz oft an diesen wunderbaren Ort wird zurückkommen dürfen.
An jeder Tür dreht er sich noch einmal um, dann stehen sie wieder auf der Straße, im »wirklichen Leben«, das sie mit abendlich kühler Herbstluft empfängt. Friedlich und sanft erleuchtet liegt die Stadt vor ihnen, die so viele Gegensätze vereint. Die Demonstranten sind nach Hause gegangen, oder in die Teesalons, in denen sie anderen Arbeitern anhand von marxistischen Schriften das Lesen beibringen und gemeinsam ihre Ideen einer neuen, gleichgeschalteten Ordnung entwickeln.
Heinrich freut sich nach dem Kunstgenuß besonders auf ein schönes Diner im Restaurant des Hotels Metropol gegenüber dem Bolschoj, doch die Damen schlagen einen kurzen Spaziergang vor, um die herrliche Abendluft und ein wenig von der unvergleichlichen Moskauer Spätsommerstimmung zu genießen. Es gehört an einem solchen Abend einfach dazu. Man schlägt den Weg durch die Petrovka und Kusnezkij Most zur Lubjanka und weiter zum Teatralnyj Projesd mit dem Hotel Metropol ein, läßt den Wagen später für die Rückfahrt vorfahren. Wera erzählt immer noch begeistert vom Können der Tänzer. Rudi ist ganz still geworden, versunken in seine Gedanken und Gefühle, in denen die Wirklichkeit ihn trotz des leichten Windes und des Lärms der Stadt, der dicht an ihm vorbeirasenden, über Kopfsteinpflaster holpernden Wanjka-Kutsche, noch nicht eingeholt hat. Was für eine herrliche Geschichte! Und die Liebe befreit den Menschen von jedem bösen Zauber und beschützt ihn! Ob seine Liebe das wohl auch schon kann? Oder muß man dazu ein Prinz sein und erwachsen? Oder eine Prinzessin lieben? Verklärt sieht er Wera an. Irgendwie ist sie eine Prinzessin. So schön und rein und geheimnisvoll. Er wird jedenfalls alles tun, um sie vor allen bösen Mächten zu beschützen. Und Apollo wird ihm dabei helfen. Ganz bestimmt.
Baron von Knoop und Heinrich sind erstaunt, wie treffend das Stück die gegenwärtige historische und gesellschaftliche Situation Moskaus spiegelt: Heinrich spannt einen Bogen von den Idealen der Roten zur falschen Geliebten im schönen Kleid, dem schwarzen Schwan im Stück, die Tochter des Bösen, die Siegfried in die Irre führen und vom rechten Weg seiner Liebe abbringen soll. Nur eine schöne
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