Der Mann mit dem Fagott
mit nassen Füßen, durchtränktem Hosensaum und bespritztem Frack, aber völlig ungerührt Platz nimmt. Ehe Anna und die Knoops, sowie die Kellner, die, als wäre es die normalste Sache der Welt, Handtücher reichen, ihn erreicht haben, erklärt er den beiden ratlosen Burschen bedeutungsvoll eine Schule des Lebens: »Merket euch eins. Es gibt Situationen im Leben, da geht man geradeaus und macht keine Umwege!«
Dann erhebt er sich mit galanter Geste, läßt die Damen Platz nehmen, blickt auf seine Uhr und läßt sich, als wäre nichts geschehen, die Speisekarte reichen.
3. KAPITEL
Kärnten, Schloß Ottmanach, Mai 1957
»Man muß die Feste feiern, wie die Schlösser fallen«
Für einen Augenblick vollkommene Stille, nur das rhythmische Klicken der Nadel auf dem Inneren des sich immer noch drehenden Plattentellers. Der alte Parkettboden knarrt, als mein Vater in die Ecke des Zimmers geht, um den Arm des Gerätes auf die Gabel zu legen. Die letzten Takte von »Schwanensee« sind verklungen.
Der Tag vergeht leise in den sanften Tönen der Dämmerung. Hier, im Schloß meiner Kindheit, im Erker des Herrenzimmers hatte ich einst Kapitän gespielt, träumend, ich lenke mein Schiff fort in fremde Länder, sicher durch alle Stürme und Eisberge. Auf dem Globus zu meiner Rechten hatte ich klangvolle Ziele in den fernsten Gefilden gesucht, hatte Abenteuer erlebt und bestanden, neue Länder entdeckt und bereits entdeckte immer wieder neu für mich erobert. Immer volle Kraft voraus in die Welt der Phantasie, geborgen hinter den Mauern, hinter denen ich mich der Wirklichkeit »draußen« nicht zu stellen brauchte, bis mich die Spötteleien meines Bruders oder die Rufe meiner Mutter zum Essen aus meinen Träumen rissen und zurück in die Realität holten.
In diesem Winkel des Schlosses fühle ich mich immer noch geborgen, stelle ich erstaunt und mit leiser Wehmut fest. Eine Geborgenheit, von der es Abschied zu nehmen gilt. Die letzte Bastion meiner Kindheit ist verkauft und wird geräumt. Die meisten Zimmer sind schon leer. Umzugskisten in den verwaisten Räumen. Nur
im Herrenzimmer, dem Arbeitszimmer meines Vaters, noch einige Möbel: der große alte Schreibtisch mit dem »Mann mit dem Fagott«, der Bronzefigur des fast in Jazz-Haltung erstarrten, rätselhaften Fagottisten mit dem lebendig-heiteren Gesicht, ganz in sich selbst ruhend, auf dem Kopf ein zerknitterter Zylinder und bekleidet mit einem Gehrock. Die Figur steht auf dem Schreibtisch meines Vaters, beinahe so lange ich denken kann. Ich habe sie vom ersten Augenblick an geliebt. Seit meinen Kindertagen hat sie meine Phantasie angeregt und beflügelt. Daneben die etwas abgewetzte Sitzgarnitur aus dunkelbraunem Leder, die schweren, dunklen, von der Zeit ein wenig verstaubten und vergilbten Vorhänge, der reich verzierte dunkle Schrank mit all den Wirtschaftsbüchern des Gutes Ottmanach, das mein Vater nicht halten konnte und der große, schwere Plattenspieler, den meine Mutter, meine Brüder und ich unserem Vater vor ein paar Monaten zum 53. Geburtstag geschenkt haben.
Die offene Tür gibt den Blick frei ins angrenzende Damenzimmer. Nur noch mein alter Ibach-Flügel steht an seinem Platz. Ansonsten erinnern allein helle Stellen an den Wänden an die Möbel und Bilder, die meine Kindheit begleitet haben. Räume, die mir plötzlich fremd geworden sind.
»Diese Musik hat irgendetwas in mir ausgelöst. Ich weiß auch nicht, was … Aber irgendwie war sie wie eine Antwort auf alle Fragen, die in mir waren, ohne daß ich sie hätte nennen können, vielleicht sogar wie eine Vorausahnung des Lebens, der guten Seiten des Lebens, fast wie ein Grund, warum man lebt, um dieses Wunderbare erfahren, diesem Geheimnis auf die Spur kommen zu können …«, erklärt mein Vater mit etwas heiserer Stimme, mehr zu sich selbst als zu uns. »Es ist schon merkwürdig: Wenn man es einmal empfunden hat, dann ist das eine Kraft, die bleibt, auch wenn alles um einen herum zerrinnt.« Unglücklich scheint er dabei nicht zu sein. »Es gibt nun einmal Dinge, die man nicht ändern kann.« Ein schneller, etwas spröde ausgesprochener Satz, fern der Nachdenklichkeit von eben.
Der Verkauf des Schlosses ist vollzogen und unabänderlich. Er scheint sich damit abgefunden zu haben. Jedenfalls möchte er uns das glauben lassen. Melancholie, die sich nicht abstreifen läßt. Wehmut des langsamen Abschieds. Ein bißchen auch der Gedanke:
Wenn es doch schon vorbei wäre. Und doch zelebrieren wir den Moment.
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