Der Mann mit dem Fagott
Sonst würden wir es später bereuen.
Um uns verteilt alte Photos und Briefe, eine Eintrittskarte für das Bolschoj-Theater aus dem Jahre 1912. Mein Vater liest sie uns auf russisch vor. Ich stelle wieder einmal fest, wie sehr ich den Klang der russischen Sprache liebe, obwohl, oder vielleicht sogar weil ich sie nicht verstehe. Erinnerungen werden wach: Mein Vater, der uns Kindern Gorkij auf russisch zitiert, weil wir ihn immer wieder darum bitten. Gedichte, die er uns beim Einschlafen vorgelesen hat, Geschichten aus seiner Kindheit, Sonntagnachmittage, an denen wir zusammen hier im Herrenzimmer saßen, die kleine, alte Zigarrenkiste, von uns »Raritätenschachtel« genannt - oder auch nur »die Schachtel« -, vor uns auf dem Tisch, in der mein Vater all die Schätze seiner Kindheit und Jugend aufbewahrt. Das Säckchen mit »Heimaterde«, das er bei der Flucht der Familie aus Moskau mitgenommen und sein ganzes Leben lang aufbewahrt hat, wie die kleine, gepreßte Blume aus dem Garten seines Elternhauses, den Flugschein für die Reise im Luftschiff »Graf Zeppelin«, die er mit seinem Vater gemacht hat, Zeitungsausschnitte, ein paar Briefe und Postkarten und natürlich die Uhr, die schwere, goldene Taschenuhr meines Großvaters, die jetzt meine ist.
Auch jetzt liegt sie wieder vor ihm auf seinem Schreibtisch. Ich habe meinen Vater darum gebeten, sie noch ein wenig für mich aufzubewahren. Bei meinen vielen Reisen wäre sie ein wenig fehl am Platze, die Verlustgefahr zu groß, und irgendwie gehört sie für mich auch noch zu sehr zu meinem Vater und den Dingen, die ihm lieb und teuer sind.
Ganz in Gedanken streicht er sanft über ihren Deckel, während er von jenem Abend im September 1912 erzählt, von seinem ersten Besuch im Bolschoj-Theater, von Tschaikowskijs Musik und dem Brunnen im Hotel Metropol.
Mein kleiner Bruder Manfred, inzwischen fast 14 Jahre alt, hängt genauso an seinen Lippen wie mein älterer Bruder Joe und ich. Ein letzter Besuch in einer versinkenden Welt.
Meine Mutter ist bereits zum »Lamisch« gefahren, der ausgebauten Alm des Gutes, in der meine Eltern nun mit Manfred leben werden. Noch ein paar Stunden, dann werden auch die allerletzten Möbel und Kisten und Erinnerungsstücke verpackt und abgeholt
worden sein. Organisation eines Abschieds. Im kleinen Kreis. Das große Abschiedsfest haben wir schon zu Silvester gefeiert, dem letzten Tag, an dem das Schloß uns formal gehörte. Ein paar Monate für den Umzug, den Ausbau des neuen Hauses. Ein vorübergehendes Gastrecht. Jetzt wird es ernst.
Mein Vater hat zur besonderen Feier des Tages eine Flasche von seinem besten Rotwein geöffnet.
»Man muß die Feste feiern wie die Schlösser fallen.« In seiner Stimme bittere Heiterkeit. Auch Manfred darf mit anstoßen. Ein besonderer Moment für ihn. Stolz hebt er sein Glas.
»Auf den Neubeginn«, schlägt mein Bruder Joe vor.
»Ja, auf bessere Zeiten!« stimmt mein Vater zu.
»Auf die Lebensfreude. Und auf den Großvater, der davon ja wohl reich beseelt war«, füge ich hinzu.
»Und auf die Musik«, setzt Manfred schüchtern-stolz nach. Er liebt die Musik wie mein Vater und ich und freut sich immer auf die Bänder und Platten von all den Jazz- und Swing-Bands, die ich bei meinen Besuchen mitbringe. Und auf die Stücke, die ich ihm am Klavier vorspiele. Die Gläser klingen.
»Symphonie Pathétique«
Es ist noch kein wirklich warmer Mai-Abend. Es zieht ein wenig durch die Ritzen der nicht mehr einwandfrei schließenden Türen. An die Kälte in den großen Räumen kann ich mich noch gut erinnern. Man konnte es sich nicht leisten, das ganze Schloß warm zu halten, nicht nur während des Krieges. Nur die wichtigsten Zimmer wurden geheizt, und selbst die blieben meistens zugig und ein wenig klamm.
»Das Schloß verschlingt den Wald«, hatte ich meinen Vater oft sagen gehört, wenn wieder einmal Bäume für die laufenden Kosten des Schloßbetriebs hatten gefällt werden müssen. »Es ist nicht mehr die Zeit für Schlösser.« Auch dies ein Satz, den ich als Kind oft gehört habe. »Eigentlich sind deine Mutter und ich froh, daß
wir diesen alten Kasten, der nur Sorgen macht, endlich los sind«, fügt er mit dem in diesen Tagen etwas übertrieben präsentierten Optimismus hinzu, der Mut machen soll, vor allem ihm selbst. Aufbruchsstimmung, die er sich selbst glauben machen will.
Unser Schloß war kein prächtiges Märchenschloß. Es war eine Jahrhunderte alte Trutzburg vergangener Zeiten. Bis zu vier
Weitere Kostenlose Bücher