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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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Treibhaus des Kapitalismus geworden war. Der Einfluß des Deutschtums in Rußland reichte längst auch bis in die höchsten politischen Ämter und hatte schon längst begonnen, für Mißstimmung im Land zu sorgen. Daß Witte eigentlich Holländer war, tat nicht viel zur Sache. Ein zu feiner Unterschied. Er galt als Deutscher und gab sich auch so.
    Mißmutig wischt Heinrich das glimmende Stückchen Kohle beiseite, tritt die Glut mit seinen Schuhen aus. »Wasja, mach um Himmels willen das Fenster zu!« herrscht er seinen Chauffeur an. »Lieber ersticke ich hier, als diesem Dreck ausgeliefert zu sein!« Dieser gehorcht sofort. Wie meistens begleitet er Heinrich auf seinen Reisen, ist ihm beim Kofferpacken, beim Tragen des Gepäcks, diversen Besorgungen und allen kleineren und größeren Handreichungen behilflich.
    Der Rand des Loches, den die Glut in die Zeitung gebrannt hat, glimmt immer noch. Heinrich klopft mit seinem Taschentuch darauf. Unwillig legt er sie beiseite.
    Die Hitze im Abteil macht Heinrich Bockelmann zu schaffen. Schweiß auf seiner Stirn. Ganz entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten hat er seine Jacke abgelegt. Nervös greift er sich eine Zeitung vom dicken Stapel derer, die er auf der Fahrt bereits gelesen hat, fächert sich Luft zu. »Westnik Jewropy«, der »Europabote«. Nichts Gutes war darin zu lesen. Russische Generalmobilmachung. Das Ultimatum Deutschlands. Vaterland gegen Vaterland.
    »Wasja, wird es Krieg geben?« wendet er sich an den jungen Georgier, dessen wacher Blick ihm gefällt.
    »Ich weiß es nicht, Barin«, ist die zögerliche Antwort. Wenn nicht einmal mehr die Dienstboten sich bemühten, die Kriegsgefahr herunterzuspielen, dann schien die Katastrophe unausweichlich. Sie näherte sich mit Riesenschritten. Man sah sie förmlich auf sich zukommen, trieb ihr unaufhaltsam entgegen. Die Geschwindigkeit des Zuges bereitet Heinrich plötzlich Beklemmungen. Ihm ist für einen Moment, als rase er in diesem schwarzen, fauchenden Ungetüm mitten ins Unheil.
    Ruhelos geht er auf und ab, öffnet das Fenster doch wieder. »Das ist ja nicht auszuhalten hier!« Einige Atemzüge frischen Fahrtwind,
dann der nächste Rußschwall. Hustend und mit brennenden Augen verriegelt er das Fenster wieder und setzt seinen Gang fort. Hin und her durch das luxuriös ausgestattete Abteil, das alle Annehmlichkeiten bietet: bequeme Sitze, Teppiche, schöne, eingebaute Mahagoni-Tischchen für all die Papiere, die die Geschäftsreisenden bei sich haben, Kissen, mit denen man es sich bequem machen konnte. Das Modernste und Luxuriöseste, was die Bahn zu bieten hatte. Heute kann Heinrich die Annehmlichkeiten nicht genießen.
    Seine Begleiter werfen sich vielsagende Blicke zu. So hat man Heinrich bisher nur in schwersten Krisen erlebt, in Momenten, in denen eine dunkle Wolke der Gefahr sich über dem Finanzmarkt und seinem Lebenswerk zusammenbraute. Bislang waren alle dunklen Wolken nach kurzer Zeit wieder verflogen, doch diesmal schien es keinen Ausweg mehr zu geben. Man hatte bei allem gesellschaftlichem Einfluß die Fäden nicht mehr in der Hand. Das eigene Schicksal wurde von anderen bestimmt. Man konnte nicht mehr handeln, nur noch reagieren, eine Ohnmacht, die Heinrich nur schwer ertrug.
    Seit Tagen herrschte ein schier undurchschaubares Chaos im Land und in der Junker-Bank. Eine Lawine, die alles mit sich zu reißen droht, was Heinrich Bockelmann sich erarbeitet hat und woran er glaubt. Der Deutschenhaß, bisher nur verhohlen und meist hinter vorgehaltener Hand ausgesprochen, manchmal hinterrücks in kleineren Anschlägen offensichtlich, war binnen weniger Tage fast offizielle Haltung und salonfähig geworden. Persönlich war er von diesen Anfeindungen bisher noch verschont geblieben, aber die Konten, die zum Teil jahrzehntelang auf der Junker-Bank lagen, wurden plötzlich zu Hunderten aufgelöst. Schlangen an den Kassen, wie Heinrich sie noch nie zuvor erlebt hatte. An manchen Tagen war die Bank nur noch stundenweise geöffnet. Man hatte Mühe, die Gelder, die eingefordert wurden, termingerecht bereitzustellen. Der russischen Staatsbank, die in Krisen wie dieser aushalf und die selbst jetzt noch der deutschen Privatbank Bargeld zur Verfügung stellte, gingen langsam die eigenen Geldreserven aus. Und es mangelte an Personal. Die russischen Angestellten waren in Scharen zu ihren Regimentern einberufen worden. Und auch viele deutsche Mitarbeiter hatten sich in
ihre erste Heimat zurückgezogen. Die abtrünnige

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