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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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das auch gut so. Man muß nicht alles wissen. Tänzerin ist sie jedenfalls nicht geworden, und doch wird sie es gleichzeitig für immer sein.«
    Mehr zu mir selbst als an die anderen gewandt spreche ich den Gedanken aus, der mir spontan und wie ein kleiner Trost in dieser traurigen Geschichte in den Sinn kommt: »Was auch immer die beiden bewegt haben mag, ich hoffe für Wera, daß es sich wenigstens noch irgendwie erfüllt hat. Verheiratet hin oder her - manchmal gibt es nun einmal Gefühle, die sind wichtiger als alle Dokumente und Stempel. Ein Mensch, der einmal wirklich geliebt hat, hat auch gelebt!«
    Gefühle bahnen sich immer irgendwie ihren Weg, wie zu Tal fließendes Wasser, denke ich und verdränge den Gedanken an meine eigenen Konfusionen, die ich mit diesem Thema immer noch habe.
    Das Feuer prasselt.
    Manfred blickt ganz in Gedanken versunken aus dem Fenster. »Ist euch eigentlich schon einmal aufgefallen, wie viele Farben sogar die Dunkelheit hat? Sie ist immer ein bißchen anders. Es gibt alle Abstufungen von Blau, dann ist sie wieder eher silbern, dann rötlich, morgens, wenn es ein schöner Tag wird, oft sogar orange - aber ich glaube, schwarz ist sie eigentlich fast nie, obwohl man das doch sagt: pechschwarze Nacht.«

    »Und in Sankt Petersburg gibt es sogar weiße Nächte«, nimmt mein Vater den Gedanken auf. »Im Juni, wenn die Sonne am höchsten steht, geht sie die ganze Nacht hindurch nicht richtig unter und hüllt die ganze Stadt in ein seltsames, geheimnisvolles, weißes, manchmal auch silbernes Licht. Es dämmert auf der einen Seite des Himmels, und auf der anderen geht schon wieder die Sonne auf.«
    Manfred wendet sich um. »Das würde ich ja gern einmal sehen!«
    Mein Vater lächelt. » Ich werde bestimmt nie wieder in dieses Land fahren können. In meinem Paß steht ›geboren in Moskau‹, und das ist ein unüberwindliches Hindernis. In Rußland gilt bis heute der Grundsatz von der Staatsbürgerschaft durch Geburt. Für die Russen bin ich also bis heute ein Russe. Und daß wir damals das Land verlassen haben, würde man mir als Fahnenflucht auslegen. Man würde mich sofort verhaften. Und das Land meiner Kindheit gibt es ohnehin nicht mehr.«
    »Warum genau seid ihr damals eigentlich geflohen? Wart ihr direkt in Gefahr, oder war das nur eine Vorsichtsmaßnahme?«
    Nachdenklich steht mein Vater auf. Der Kamin flackert.
    Ich blicke aus dem Fenster in die rötlich gefärbte Dunkelheit des Kärntner Frühlings. Patsys Brief in meiner Tasche. Leben ist Veränderung, ist Abschied. Knarrendes Parkett. Zugige Abendluft dringt durch die offenen Türen, flüstert fremd in den leeren Räumen, spielt geheimnisvoll in den Saiten meines verwaisten Klaviers. Wind der Zeit. Konturen verwischen.

4. KAPITEL
    St. Petersburg / Moskau / Ural 1914-1915

Die Gefahr
    »Mehr Kohle ins Feuer, wir verlieren Druck! Los! Schneller!« treibt der Lokführer den Heizer an. Rußgeschwärzt und schwitzend schaufelt dieser die Kohlen in die Flammen der Heizkammer unter dem Dampfkessel, ohne die Papirossa, einen selbstgedrehten Zigarettenersatz, aus dem Mundwinkel zu nehmen, gerade so als wäre noch nicht genug Rauch und Ruß um ihn herum. Dröhnendes Rasseln beim Überqueren der Stahlbrücke über den Wolchow. Noch rund eine Stunde Fahrt. Die riesige schwarze Lokomotive modernster russischer Bauart liegt gut im Plan.
    Ende Juli. Mittagszeit. Die Sonne beinahe im Zenit. Fauchend und tosend bahnt sich der Expreßzug Moskau - St. Petersburg seinen Weg. Lärm der über die Schienen ratternden Räder. Höchstgeschwindigkeit. Schnurgerade liegt der Schienenstrang in der flachen Landschaft. Nervöses Pfeifen. Die flirrende Hitze drückt den schwarzen Qualm nach unten. Er verwirbelt sich zwischen den Waggons. Ein Schwall aus Ruß wird durch das offene Abteilfenster gepreßt, in dem Heinrich Bockelmann sich mit seinem Schwager Werner Vogel, der seit drei Jahren unter Heinrichs Anleitung in der Junker-Bank arbeitet, Alfried Bladt, dem Leiter der Devisenabteilung und seinem Chauffeur Wasja auf der Fahrt zu einer Krisensitzung nach St. Petersburg befindet. Ein Glutfetzen fällt auf den Artikel des »Westnik Finansow«, des »Finanzboten«, den Heinrich gerade liest. Herausgegeben von Graf Sergej Juljewitsch Witte, dem ehemaligen russischen Finanz- und Wirtschaftsminister
deutsch-holländischer Abstammung, der während seiner vierzehnjährigen Amtszeit mit seiner Politik massiv dazu beigetragen hatte, daß Rußland zum überhitzten

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