Der Mann mit dem Fagott
ein paar Tagen bin ich mit ihm in seine Heimatstadt im Mittleren Westen gezogen. Er hat hier eine kleine Autowerkstatt, und auch seine Eltern sind sehr lieb zu mir. Wir werden im Sommer heiraten. Du lachst jetzt vielleicht. Aber es ist sicher das Beste, was mir passieren konnte. Er trinkt nicht und ist gut zu mir. Ich denke oft an Dich. Du hast mir immer das Gefühl gegeben, etwas Besonderes zu sein. Irgendwie werde ich Dich immer lieben. Leb wohl, Deine Patsy
PS: Und vergiß nicht: Hol Dir die Sterne!
Sofort kehrt die wehmütige Traurigkeit zurück, die mich immer in Patsys Nähe erfaßt hat, die belastende Unfähigkeit zu helfen, der machtlose Ritter. Die Anstrengung, mit der sie versucht, einen leichten, positiven Ton zu treffen, lastet auf meiner Seele. Nicht einmal ein Absender. Keine Adresse. Der Versuch, mich nicht zu belasten, mich freizugeben, alles hinter sich zu lassen. Ich scheine blaß geworden zu sein.
»Alles in Ordnung, Junge?« fragt mein Vater besorgt. Ich bemühe mich um ein Lächeln. Eigentlich sind es doch gute Neuigkeiten. Bestimmt ist es das richtige für Patsy, versuche ich mich wieder zu beruhigen, hilflos wie früher, wenn ich sie aus dem Esplanade mit einem Freier habe ziehen lassen müssen.
Hoffentlich wird sie glücklich werden. Und ich frage mich, wieso ich mich eigentlich für Patsys Glück verantwortlich fühle. Es war doch nur eine Zufallsbegegnung, zwei etwas orientierungslose junge Menschen, die so etwas wie Halt aneinander gesucht haben. Eine Nähe für den Augenblick, mehr nicht; eine kleine, romantische Geschichte in einer ganz und gar unromantischen Welt. Gefühle, mit denen ich meine Liebe zu Gitta nie verraten habe und für die ich mich doch schuldig fühle. Unerklärlich für mich selbst wie meine Traurigkeit.
»Ja, natürlich, alles in bester Ordnung«, schwindle ich, auch weil ich nicht so genau weiß, was eigentlich nicht in Ordnung ist mit diesem Brief.
»Du mit deinen ewigen Liebestragödien«, klopft Joe mir ein wenig spöttisch auf die Schulter, ein bißchen hilflos, wenn es um Gefühlsdinge geht. Darüber, was er bei dem Gedanken fühlt, daß er selbst im Sommer heiraten wird, hat er noch nie mit uns gesprochen. Ich bin ratlos, ob ich ihn für seine offensichtliche Stabilität in diesen Dingen beneiden oder für die Mühelosigkeit, mit der er Unsicherheiten und Zweifel, aber auch Romantik abzuschütteln scheint, bemitleiden soll; schließlich entgeht ihm doch auch viel … Leben zwischen Traumtänzerei und Bodenhaftung. Von einer Emotion zur nächsten. Ein ständiger Schwebezustand. Von außen betrachtet sicher nicht sehr erstrebenswert. Und doch das Gefühl von Lebendigkeit, das mich weiterträgt, ohne das ich nicht sein könnte.
»Was ist eigentlich aus Wera Knoop geworden? Konnte sie trotz des Kriegsausbruchs Tänzerin werden?« frage ich meinen Vater, um das Thema zu wechseln.
Es sollte eine heitere, unbeschwerte Frage sein, eine Überleitung in harmlose, schöne Geschichten von ersten kindlichen Schwärmereien, wie wir alle sie erlebt haben, unerfüllt und gerade deshalb groß und leicht. Doch auf die Miene meines Vaters fällt ein Schatten. »Wera Knoop …« Er seufzte als gäbe es für das, was er zu sagen hat, keinen Anfang. Dann steht er schweigend auf, tritt an sein Bücherregal. Er braucht nicht lange zu suchen, greift nach einem Band mit Gedichten Rilkes, läßt die Seiten durch seine Finger gleiten. Ein Photo als Lesezeichen. Das Portrait eines jungen Mädchens mit schwarzem, dichtem Haar, feinen Gesichtszügen,
vollen, lebenshungrigen Lippen und großen, dunklen, ein wenig wehmütigen Augen.
»Das ist Wera Knoop.« Er reicht uns die Photographie, hält das aufgeschlagene Buch ein wenig unschlüssig in seinen Händen. »Vielleicht beantwortet das deine Frage.« Er legt den Band behutsam vor sich auf den Schreibtisch, setzt seine Lesebrille auf. »Dies hier ist - wie Rilke es formuliert hat - ihr ›Grab-Mal‹.«
Ratlos und erschreckt von den düsteren, ungewohnt kryptischen Worten meines Vaters blicken wir auf die aufgeschlagene Seite.
»Die Sonette an Orpheus«, steht da, und: »Geschrieben als ein Grab-Mal für Wera Ouckama Knoop. Von Rainer Maria Rilke, Château de Muzot im Februar 1922«. Mein Vater sucht nach etwas, das der Geschichte einen Zusammenhalt gibt, so etwas wie eine innere Logik, beginnt dann doch am Ende.
»Für mich war es die erste schmerzliche Erfahrung mit einem ungerechten und nicht zu begreifenden Schicksal …«
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