Der Mann mit dem Fagott
Er unterbricht sich, nimmt einen Schluck Wein. Wir wissen, daß er erzählen wird und stören ihn nicht mit einer Frage. Nachdenklich schaut er in sein Glas.
»Wera war ein so lebensfrohes und offenes und kluges junges Mädchen. Sie war ernst und fröhlich zugleich, und sie hat mit solch einer Disziplin und berstenden Lebensfreude getanzt, daß die Bühnen der Welt ihr offengestanden hätten.« Er räuspert sich. »Wenn das Schicksal es nicht anders gewollt hätte.«
Dann versucht er, so sachlich wie möglich zu erzählen: »Relativ kurze Zeit nach meinem ersten Theaterbesuch im Bolschoj ist Wera mit ihrer Familie aus Moskau weggegangen. Zurück nach München, wo die Familie ihren zweiten Wohnsitz hatte. Es hatte wohl mit der unsicheren politischen Situation in Rußland zu tun. Ihre Mutter hat noch ab und zu mit meiner Mutter korrespondiert. Angeblich soll Rainer Maria Rilke in jener Zeit sogar um Weras Hand angehalten haben, aber vielleicht ist das auch nur eine Legende, die sich in unserer Familie mit der Zeit um den Mythos Weras herumgerankt hat.« Er hält inne. Joe bietet mir wortlos eine Zigarette an, gibt uns Feuer.
Mein Vater rückt uns ganz in Gedanken den Aschenbecher auf seinem Schreibtisch entgegen.
»Jedenfalls haben wir uns damals in Moskau verabschiedet.
Übrigens an der Zarenglocke im Kreml, an der wir uns oft getroffen haben: eine Glocke, die niemals erklingen konnte, die bei irgendeinem großen Unglück kurz bevor sie in den Glockenturm gezogen werden sollte, zerbrach und die man dann einfach auf der Erde stehenließ, mit der offenen Wunde, durch die man eintreten und in ihr spielen konnte.« Er lächelt in der Erinnerung an seinen kindlichen Lieblingsplatz. »Es war ein wunderbarer, geheimnisvoller Ort für uns Kinder, und vielleicht ist es auch irgendwie bezeichnend, daß Wera und ich uns ausgerechnet an diesem ›verwundeten Platz‹ zuletzt gesehen haben. Ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen. Wir haben uns über Rilke unterhalten und über Deutschland und über das Tanzen und darüber, daß wir uns natürlich bald wiedersehen würden. Ganz bestimmt.«
Mein Vater hält inne, glättet mit der Hand die aufgeschlagene Buchseite. »Doch irgendwie hatte ich schon damals das unerklärliche Gefühl, ich würde Wera niemals wiedersehen.«
Er putzt seine Brille. »Es war eine geheimnisvolle Krankheit, die plötzlich von ihr Besitz ergriffen haben muß. Jedenfalls vergingen keine fünf Jahre, bis Weras Lebenslust nach und nach ›zuerst aus ihrem Körper, dann aus ihrer Seele schwand‹, wie ihre Mutter Gertrud es in Briefen formuliert hat. Sie magerte ab, verlor all ihre Kraft, mußte mit dem Tanzen aufhören. Kein Arzt konnte ihr helfen, und ihre Mutter mußte machtlos zusehen, wie Wera mit ihren 19 Jahren langsam verlöschte und schließlich starb.« Mein Vater hält inne. »Die Krankheit nannte man damals ›Schwindsucht‹. Ein Name für alles mögliche, für alles, was man sich nicht erklären konnte. Vielleicht war es eine schwere Lungenentzündung, vielleicht auch Leukämie. Wie auch immer, damals konnte man nichts für Wera tun.« Mein Vater hält inne. »Das, was sie und Rilke verband, muß jedenfalls doch mehr als ihre Jungmädchenschwärmerei gewesen sein. Als er von ihrem Tod erfuhr, war er, wie man heute in seinen veröffentlichten Briefen nachlesen kann, schwer betroffen. Er hat tage- und nächtelang nichts anderes mehr gemacht, als zu schreiben, um Wera mit den Mitteln des Dichters ein wenig von ihrer Lebendigkeit zurückzugeben. Und damit hat er sie irgendwie unsterblich gemacht. So sind die berühmten ›Sonette an Orpheus‹, entstanden, Wera gewidmet. In seinen Briefen habe ich bestätigt gefunden, was Weras Mutter
meiner Mutter erzählt haben soll: Er hat sie um ein Erinnerungsstück an Wera gebeten.«
Mein Vater zeigt uns einen kleinen markierten Absatz in einem Band mit Rilkes Briefen und liest vor:
Nicht wahr, die Zeit wird kommen, da Sie mir still von ihr erzählen. Und da ist eine Bitte: Legen Sie mir irgendein kleines Ding zurück, das Wera lieb gewesen ist, womöglich, eines, das viel wirklich bei ihr war .
»Das werdet ihr wahrscheinlich kaum begreifen, aber es war unfaßbar für mich, das hier zu lesen. So viele Jahre später.
Mein Vater klappt mit einer abschließenden Geste das Buch zu. »Mehr weiß ich darüber auch nicht. Ob die Verliebtheit zwischen Rilke und Wera sich erfüllt hat, wird vermutlich ein ewiges Geheimnis bleiben. Und wahrscheinlich ist
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