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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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Situation wie dieser, in der ihm an Greifbarem, Sicherem, Freiem eigentlich nur noch die eigenen Gefühle geblieben sind, undurchschaubar für die Bewacher und unkontrollierbar.

    Heinrich zieht den Morgenmantel fester um sich, wärmt sich die Hände am erlöschenden Glimmen des kleinen, runden, eisernen Ofens in seinem Zimmer. Wenn es mißlang, würde er tot sein. Aber wenn er hierblieb, in dieser letzten Ecke der Welt, gefangen, abhängig von der Gunst russischer Soldaten, fast lebendig begraben. Noch nicht einmal 45 Jahre alt. Man würde ihn nicht freilassen, auch nicht mit Erreichen dieses Geburtstags, der normalerweise den Männern der feindlichen Staaten die Freiheit wiedergab, weil sie damit als nicht mehr wehrfähig galten. Ihn würde man nicht laufenlassen. Der Spionageverdacht hatte diese Tür für ihn zugeschlagen, da ist er sich ganz sicher.
    Die Eisblumen haben die kleine Lücke, die sein Atem vorhin schuf, schon wieder fast geschlossen. Nur noch eine kleine Öffnung. Enge des Blicks, die ihn schärft. Einen Herbst und einen kalten Winter hatte er nun schon in der Gefangenschaft verbracht. Nichts war geschehen. Und es würde noch lange nichts geschehen.
    Sollte er darauf warten, bis seine Zukunft hinter ihm lag und vielleicht auch die seiner Söhne?
    Heinrich trinkt einen Schluck Wasser. Fast fünf Uhr früh. Der Sturm beginnt, sich zu legen, die Melodie wird sanfter, säuselnder. Er legt sich wieder in sein Bett. Seine Gedanken klären sich, sein Atem kommt zur Ruhe.
    Nein, an den Verlust der Freiheit konnte man sich nicht gewöhnen! Niemals!

Das Bahnhofshotel
    29. Mai 1915. Stille. Nur das Geräusch des schweren Zimmerschlüssels, der wortlos auf die schon völlig zerkratzte Empfangstheke in der kleinen Pension im Moskauer Bahnhofsviertel gelegt wird. Die Uhr an der Wand zeigt weit nach Mitternacht. Zimmer 21. Heinrich hat es gleich für eine ganze Woche in bar bezahlt, so erspart er sich das Ausfüllen von Anmeldedokumenten. Er hat zwar sein offizielles, drei Wochen lang gültiges Reisedokument aus
Wjatka bei sich, in dem ihm gestattet wird, sich im Auftrag des Gouvernements Wjatka für den genannten Zeitraum in Moskau und auf der Strecke zwischen Wjatka und Moskau aufzuhalten und dort frei zu bewegen, doch er möchte kein Aufsehen erregen, nicht registriert sein. Es ist besser für seine Pläne. Und mißtrauische Fragen könnten alles gefährden.
    Der alte Portier stellt keine Fragen. »Im zweiten Stock«, erklärt er noch knapp und weist mit dem Kopf in die Richtung der schmalen Treppe.
    Heinrich greift schon nach seinem Koffer, als ihm noch etwas einfällt. »Sagen Sie, könnten Sie mir vielleicht noch einen Gefallen tun?«
    Der Portier blickt langsam auf. Ein etwas müder, fragender Blick.
    »Ich habe morgen viel zu erledigen. Unter anderem muß ich Kontakt mit Ole Karlsen, dem Verwalter der Prochrow-Zindelfabrik, aufnehmen. Könnten Sie bis morgen früh für mich feststellen, ob er sich zur Zeit in Moskau aufhält und wie ich ihn am besten erreichen kann?«
    Ole Karlsen gehörte zu seinen engsten und ältesten Moskauer Freunden. Er war der erste, dem er in diesem Land begegnet war. Heinrich erinnert sich daran, als wäre es gestern gewesen. Die einsame Ankunft in Moskau, der erste Abend in der neuen Stadt, nur die Adresse der Junker-Bank in der Tasche, die ihm die befreundete Familie Knoop aus Bremen, Verwandte von seinem späteren Freund Gerhard Knoop, besorgt hatte. Tausend neue Eindrücke, die er mit niemandem hatte teilen können. Allein in eine Kneipe, ohne Russisch zu sprechen. Versuche, sich beim Traktirschtschik, dem Kneipenwirt, irgendwie verständlich zu machen. Plötzlich ein junger, sympathischer Mann, der sich vom Nebentisch erhob. »Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle. Mein Name ist Ole Karlsen. Kann ich Ihnen behilflich sein?«
    Plötzlich ein Gesprächspartner, ein erster Vertrauter. Man hatte bis in die Nacht hinein miteinander geredet, gemeinsam gegessen und das eine oder andere Glas Wodka geleert. Karlsen hatte ihn viel über dieses Land gelehrt, auch die ersten Worte der neuen Sprache. Ein wahrer Freund der ersten Stunde, und der letzte, der noch hier war. Knoops waren längst nach Deutschland emigriert,
die meisten anderen waren eingezogen worden oder lebten wie Heinrich in der Verbannung. Er sucht einen Vertrauten. Der Gedanke, den alten Freund morgen zu sehen, mit ihm alles das besprechen zu können, was ihm auf der Seele lag, hatte in all dem Aufruhr etwas

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