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Der Mann mit den hundert Namen

Der Mann mit den hundert Namen

Titel: Der Mann mit den hundert Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Morrell
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Morgendämmerung durch die fast menschenleeren Straßen lief. Am Central Park angekommen, benahm sie sich wie das ideale Opfer für Streuner und Drogensüchtige.
    Sie hatte Glück. Es dauerte nicht lange und aus dem Halbdunkel der Büsche trat mit gezücktem Klappmesser ein junger Bursche auf sie zu. Mit dem speziellen Hieb, den man ihr für genau solche Situationen beigebracht hatte, schlug sie ihm die Waffe aus der Hand, bevor sie dem Verdutzten in den Unterleib trat und ihm, den Kopf an den Haaren hochreißend, seine Barschaft, ganze vierzehn Dollar, abnahm, die er sich ohne weiteren Widerstand aus der Hosentasche ziehen ließ.
    Danach stärkte sie sich an einem Tag und Nacht geöffneten Hamburgerstand, opferte einen Teil ihrer bescheidenen Mittel für einen Becher heißen Kaffee und einen Pappteller voll Pommes frites. Nicht ihr gewohntes Frühstück, doch im Hinblick auf den vermutlich aufregend werdenden Tag brauchte sie wenigstens ein paar Kalorien und Kohlehydrate.
    Als einzige Frau in einem Nonstopkino gegen sieben Uhr morgens wußte sie, daß sie in den fast leeren Sitzreihen Sittenstrolche anziehen würde. Genau das war ihre Absicht. Am Ende des Films verließ sie den Saal mit weiteren fünfzig Dollar, die sie drei Männern abgenommen hatte. Sie hatte sie mit einem Schlag in den Unterleib außer Gefecht gesetzt, als sie sich im Abstand von jeweils einer halben Stunde neben sie setzten und sie zu belästigen begannen.
    Um diese Zeit waren bereits ein paar Billigläden geöffnet, wo sie eine einfache Wollmütze, ein Paar Wollhandschuhe und eine schwarze Thermojacke kaufte, die zu ihrer grauen Sportkleidung paßte. Sie verbarg das Haar unter der Mütze, und da der etwas weite Jogginganzug ihren üppigen Busen und die Hüften verbarg, wirkte sie übergewichtig und geschlechtslos. Die Verkleidung war nahezu perfekt. Sie unterschied sich nicht von den meisten Stadtstreichern, nur sahen die Kleidungsstücke zu neu aus; dem half sie ab, indem sie Mütze, Handschuhe und Jacke einmal kurz durch den Rinnstein zog.
    Dann war es Zeit, sich unter den Straßenhändlern einen Platz zu suchen, die am Broadway ihre Ware feilzubieten begannen.
    Nach zwei Stunden und mehrmaligem Standortwechsel hatte sie es geschafft, den gesamten Schmuck für zweihundertfünfzehn Dollar an Touristen zu verkaufen.
    Das reichte zwar nicht für ein Flugticket, wohl aber für eine Fahrkarte. Da ein Busticket noch billiger war und ihre Kleidung im Bus weniger auffiel, begab sie sich zu der von Junkies belagerten Endhaltestelle der Greyhound-Linien. Gegen Nachmittag war sie bereits auf dem Weg nach Baltimore.
    Zu Baltimore hatte sie keinerlei Beziehungen. Ihre Wahl war zufällig auf die Stadt gefallen. Drummond konnte nicht darauf kommen, gerade dort nach ihr zu suchen. Trotzdem mußte sie wachsam bleiben.
    Während der Fahrt beobachtete sie die anderen Passagiere und überlegte, ob sie eine Gefahr bedeuten konnten. Sie hatte genügend Zeit, ihre Möglichkeiten zu durchdenken. Zu ihrer alten Lebensweise wagte sie nicht zurückzukehren, denn bei ihrer Familie und ihren Freunden würden Drummonds Leute natürlich mit der Suche beginnen. Sie mußte eine neue Rolle kreieren, die nichts mit ihren bisherigen Rollen zu tun hatte. Sie mußte sich neue Freunde und neue Verwandte suchen. Was den Broterwerb betraf, so würde sie annehmen, was am einträglichsten war, vorausgesetzt, es hatte keine Beziehung zu ihrer früheren Arbeit. Sie mußte mit der Vergangenheit rigoros brechen. Die Umstellung auf eine neue Identität würde nicht schwierig sein – darin war sie Expertin.
    Abends um neun Uhr traf der Bus in Baltimore ein. Ein kalter Sprühregen ließ das Stadtzentrum trostlos erscheinen. Sie nahm wieder eine billige Mahlzeit zu sich – Koffein, Kalorien und Kohlehydrate. Da sie den Rest ihres Geldes nicht für ein Hotelzimmer ausgeben wollte, strich sie eine Zeitlang durch enge Seitenstraßen, in der Hoffnung, von einem Mann angesprochen zu werden. Einem, der handgreiflich wurde, brach sie das Schlüsselbein; er hatte leider nur fünfzig Cent in der Tasche.
    Sie war müde, durchnäßt, deprimiert, und sie fror; sie mußte sich ausruhen, sie brauchte einen Platz, wo sie sich einigermaßen sicher fühlte, wo sie nachdenken und schlafen konnte. Als sie einen Einkaufswagen stehen sah, entschloß sie sich zu einer neuen Rolle. Sie beschmierte sich das Gesicht mit Schmutz und belud den quietschenden Karren mit altem Zeug. Mit hängenden Schultern und irrem,

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