Der Mann mit den hundert Namen
leerem Blick in den Augen schob sie durch den feinen Regen – eine Stadtstreicherin auf dem Weg zu einem Obdachlosenheim.
Was soll ich tun? fragte sie sich. Das Selbstvertrauen, das sie während der Flucht angespornt hatte, war auf einmal verflogen. Die Härte ihres neuen Daseins lastete schwerer auf ihr, als sie erwartet hatte. Verflucht, es wäre schön, wieder die Alte zu sein.
Um das zu erreichen, müßtest du Drummond loswerden, und dazu ist er zu mächtig. Warum hat er mich angeheuert? Weshalb sollte ich diese Rolle übernehmen? Was für einen Plan hatte er? Wenn ich das herauskriege, ist er vielleicht zu schlagen. Eines ist sicher. Ohne Geld und ein Dach überm Kopf brauchst du Hilfe. Aber an wen kann ich mich wenden? Freunde – das ist zu gefährlich. Außerdem haben sie nicht die geringste Ahnung, was sie tun sollen und worauf sie sich einlassen.
Der Sprühregen wurde zum Regenguß. Die durchnäßten Kleider klebten ihr am Körper. Im Dunkel fühlte sie sich ganz wie die armselige Stadtstreicherin, die sie zu sein vorgab.
Mach dir nichts vor. Du kannst dich nur einem Menschen anvertrauen, der so anonym, so chamäleongleich, so unsichtbar und nirgendwo bekannt ist, als habe er nie existiert. Und er müßte ein Überlebenskünstler sein.
Plötzlich hatte sie einen Einfall, und als sie vor dem Obdachlosenasyl stand, kam ihr ein Mann in schwarzem Anzug und weißem Kollar entgegen.
»Treten Sie ein, Schwester. Kein Wetter, draußen zu bleiben.«
Im Einklang mit ihrer Rolle zögerte sie.
»Kommen Sie, Schwester. Drinnen ist es warm. Es gibt Essen. Einen Platz zum Schlafen.«
Ihr Widerstand erlahmte.
»Ich verspreche Ihnen, hier sind Sie sicher. Ich bringe Ihr Wägelchen unter und gebe acht auf Ihre Habe.«
Das überzeugte. Sie ließ sich wie ein Kind aus dunkler Nacht in das hellerleuchtete Heim führen, wo es nach Kaffee, in altem Fett gebackenen Pfannkuchen und Kartoffeln roch. Sie kam sich wie auf einem Bankett vor. Sie hatte einen Zufluchtsort gefunden, und als sie zu einer dichtbesetzten Holzbank schlurfte, wiederholte sie im Geist den Namen des Mannes, den sie um Hilfe bitten wollte. Der Name beherrschte ihren Geist wie eine Zauberformel. Ob er ihn noch benutzte, war fraglich. Er war ständig unterwegs. Offiziell gab es ihn gar nicht. Doch wie in aller Welt konnte sie mit einem Menschen Verbindung aufnehmen, der so gestaltlos und flüchtig wie der Wind war?
2
Cancún, eigentlich eine Sandbank, hat die Form einer Sieben. Etwa zwanzig Kilometer lang und einen halben Kilometer breit, ist es mit dem Festland an beiden Enden durch eine Brücke verbunden. Das Club Internacional Hotel liegt am oberen Querstrich der Sieben. Als Buchanan über den Strand flüchtete, achtete er nicht auf die glitzernde Fassade zu seiner Linken, sondern überlegte, was zu tun war, sobald er die Brücke am nördlichen Ende der Sandbank erreicht hatte.
Die beiden Ordnungshüter am Tatort hatten ihre Kollegen auf dem Festland vermutlich bereits per Funksprechgerät verständigt, und diese würden die Brücken sperren. Ein dreifacher Mord rechtfertigte jede Maßnahme. Zur Beruhigung der Touristen mußte rasch eine Verhaftung vorgenommen werden.
Unter anderen Umständen hätte Buchanan keine Bedenken gehabt, auf dem Gehweg entlang des Highways die Brücke zu überqueren und dort die Fragen der Polizisten höflich zu beantworten. Doch mit der verletzten Schulter und den blutbefleckten Kleidern würde er auffallen und auf der Stelle verhaftet werden. Er mußte das Gebiet auf anderem Weg verlassen, und so entschloß er sich zu schwimmen.
Auf einmal verspürte er eine leichte Benommenheit. Erschrocken merkte er, daß ihm die Beine wegknickten. Sein Herz raste, und es fiel ihm schwer, durchzuatmen. Das Adrenalin ist schuld, versuchte er sich einzureden, und die beiden doppelten Tequila natürlich auch. Obwohl Adrenalin und er alte Bekannte waren, hatte es ihn noch nie benommen gemacht. Ja, eine kleine Übelkeit, aber nie derart benommen. Der Blutverlust war wohl höher als erwartet. Wenn er die Blutung nicht zum Stillstand bringen konnte, würde er womöglich zusammenklappen.
Buchanan war als Sanitäter ausgebildet und wußte, daß man eine Blutung am besten mit einem Druckverband stoppte. Da er keine Erste-Hilfe-Ausrüstung bei sich hatte, blieb nur die früher empfohlene, heute aber verpönte Methode – die Knebelpresse. Sie hatte den Nachteil, daß sie die Blutzufuhr zum ganzen Glied unterbrach, in diesem Fall zu
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