Der Mann mit den hundert Namen
einem 6 x 3 Meter großen Zelt, ihrem Büro, stand. Schweiß rann ihr über das Gesicht und sammelte sich tröpfchenweise am Kinn.
Im offenen Eingang des Zelts erschien ein Schatten. Aufblickend erkannte sie McIntyre, den Projektleiter. Er nahm den Schutzhelm ab, tupfte sich mit einem karierten Taschentuch über die verschwitzte Stirn und schrie, um den Lärm zu übertönen: »Er kommt!«
Jenna sah ärgerlich auf ihre Uhr, deren Metallarmband sandverkrustet war. »Schon? Es ist zehn Uhr. Er sollte doch erst um …« Sie legte den Bleistift hin und ging zum Zelteingang. McIntyre deutete nach Osten, wo im gnadenlosen Sonnenlicht des kobaltblauen Himmels über dem Dschungel ein kleiner Fleck näherkam. Schließlich erkannte sie den Hubschrauber und hörte ihn dann sogar auf dem Landeplatz in der Nähe des Camps aufsetzen.
Staub wirbelte auf, jene dünne Bodenkrume, die bloßgelegt wurde, als dieser Teil des Waldes abgeholzt, in die Luft gesprengt oder von Bulldozern entwurzelt worden war. Fahrer und Bauarbeiter hielten einen Augenblick lang in der Arbeit inne und sahen zum Landeplatz. Es handelte sich diesmal nicht um einen der gewaltigen, häßlichen Transporthelikopter, wie sie zur Beförderung von Fahrzeugen und Baugeräten benutzt wurden, sondern um den kleinen, schnittigen Passagierhelikopter, der einem der reichsten Geschäftsleute der Welt gehörte. Selbst aus dieser Entfernung war an der Bordwand der Maschine das rote Symbol von DRUMMOND INDUSTRIES zu erkennen. Wie Jenna bemerkte, beachteten die Wachtposten die Ankunft nicht weiter. Sie patrouillierten, ihre Maschinenpistolen im Anschlag, stur auf und ab, Profis, die die Augen nur auf den Dschungel ringsherum richteten.
»Wir lassen ihn lieber nicht warten«, sagte McIntyre.
»Bloß nicht! Verdammt, sieh dir das an. Er ist schon ausgestiegen. Er erreicht noch vor uns das Hauptbüro. Ich habe gehört, daß er jeden Morgen sechzig Bahnen schwimmt.«
»Ja, der alte Schweinehund hat wahrscheinlich mehr Energie als wir beide«, murrte McIntyre, und Jenna rollte die Karte zusammen und klemmte sie unter den Arm.
Sie eilten im Laufschritt zum stabilsten Gebäude des Camps. Der Flachbau war aus Baumstämmen errichtet und diente als Lager für lebenswichtige Vorräte – Nahrungsmittel, Treibstoff, Munition, Dynamit – Dinge, die es vor dem Klima oder stöbernden Tieren und besonders vor Menschen zu schützen galt. Hier war auch das Verwaltungszentrum, wo McIntyre die Aufzeichnungen über das Projekt stapelte, Funkkontakt mit dem Arbeitgeber aufrechterhielt und täglich Besprechungen mit den Vorarbeitern durchführte.
Jenna behielt recht. Als sie sich dem Gebäude näherten, hatte Alistair Drummond es bereits erreicht. Gerüchte nährten seine zwielichtige Berühmtheit. Wieviel Reichtum hatte er angehäuft? Welchen Einfluß besaß er auf den Ministerpräsidenten der Volksrepublik China? Welche Rolle hatte er im arabischen Ölembargo des Jahres 1973 gespielt? Wie weit war er in die Iran-Contra-Affäre verwickelt? War er im mittleren Alter tatsächlich mit Ingrid Bergman, Marlene Dietrich und Marilyn Monroe ins Bett gestiegen? Welcher Art waren seine Beziehungen zu Maria Tomez, der berühmten Operndiva, die man in jüngster Zeit häufig in seiner Begleitung sah? Alistair Drummond war sechsmal geschieden, er verbrachte mehr Tage des Jahres in seinem Jet als auf den Anwesen, die er in elf Ländern besaß. Die über ihn kursierenden Geschichten und Rätsel stellten ihn als einen Mann voller Widersprüche dar, die man auf die unterschiedlichste Weise interpretieren konnte. Zum Beispiel sein Engagement für die Aidsforschung: Bewegten ihn tatsächlich humanitäre Motive oder ging es ihm nur darum, riesige Profite einzustreichen? Oder beides? Jedenfalls war er eine imposante, geheimnisvolle Figur, und deshalb blieb er allen, die je mit ihm zu tun hatten, im Gedächtnis haften.
Ich vergesse ihn schon gar nicht, dachte Jenna, und diesen Job ganz bestimmt auch nicht. Beim Vorstellungsgespräch hatte er mit unverhohlen geilem Blick ihre üppige, feste Brust, ihre schlanken, ebenfalls festen Hüften abgeschätzt und ihr mit krächzender Stimme, die ihr einen Schauder über den Rücken jagte, einen Job angeboten, obwohl es eher wie ein eindeutiger Antrag klang. Ohne Zweifel war Drummond der gefühlloseste, gemeinste Hund, der ihr je begegnet war, andererseits aber auch der großzügigste. Ihr Gehalt entsprach der Summe der Gehälter für ihre letzten zehn
Weitere Kostenlose Bücher