Der Mann schlaeft
ertrinken, von Hochhäusern springen oder austrocknen, das Gehirn rösten, und man selber ist nicht mehr zu Hause. Vielleicht bin ich bald eine von ihnen. Herumschleichen mit zotteligem Haar und fiebrigem Blick, vielleicht eine unsinnige sadomasochistische Affäre mit einem Chinesen beginnen, auf seinen Treppen übernachten, mit einem Hundehalsband. Und mich dann auflösen im Wahn, verscharrt in den Bergen.
Es gibt keinen Grund, weiterzuleben, und warum ein Mensch, der nicht mehr in der Lage ist, reibungslos seinem biologischen Auftrag nachzukommen, noch am Leben hängt, ist mir unklar. Vielleicht hatte die Natur keine Lust mehr, eine extra Schaltung für Lebensmüde und Alte einzubauen, war beschäftigt mit der Erschaffung von Ameisenbären, ein fürwahr aberwitzig aufwendiges Unterfangen.
Starren und die Zeit besiegen. Nichts denken und nichts fühlen, weil man es nicht aushält. Vermutlich entstehen so Mörder, Päderasten und Soldaten. Sie sind in einer Lücke zwischen den Gedanken hängengeblieben.
Damals.
Vor vier Jahren.
Als ich am Abend unserer ersten Begegnung nach Hause kam, hatte der Mann bereits auf den Anrufbeantworter gesprochen.
Seine Stimme, durch den Apparat komplett unvertraut, erfüllte meine leere Wohnung. Er gab vor, sich von der Richtigkeit der Telefonnummer überzeugen zu wollen, und erstaunlich allein, dass ich ihn sofort zurückrief, denn ich war ein mäßig begabter Telefonbenutzer. Stimmen ohne Körper machen mir Angst.
Der Mann meldete sich so schnell, dass man glauben konnte, er habe auf meinen Anruf gewartet, doch damit endete bereits der aktive Teil des Gesprächs. Wir hatten beide die Kunst der einnehmenden Rede nicht erfunden und wussten weder etwas zu sagen, noch damit aufzuhören, und so lauschten wir in die Leitung, die allen technischen Entwicklungen zum Trotz immer noch surrte. Als wir uns irgendwann verabschiedeten, blieb ich beruhigt und ein wenig ratlos zurück. Das Schweigen, das wie eine leichte Daunendecke gewesen war, fehlte mir.
Später lag ich zum Schlafen bereit und wartete auf die Angst, die sich normalerweise vor Verabredungen mit mir Fremden einstellte, doch da war nichts, was mich ängstigte, eher ein Gefühl der Unausweichlichkeit. Es gab keine andere Möglichkeit, als den Mann wiederzusehen, denn die Vorstellung, dass er mit jenem Gespräch, das keines gewesen war, ausmeinem Leben verschwinden würde, erfüllte mich mit etwas Abgründigem.
In der Nacht träumte mir von Beinprothesen aus Kunstfleisch, das aussah wie Thunfischsteak. Am neuen Morgen waren meine Beine verschwunden. Ich stand auf den Stümpfen mit meinem Kaffee am Fenster und sah wie jeden Morgen den Nachbarn bei ihrem Leben zu.
Erstaunlich, mit welcher Ernsthaftigkeit sie sich verkleideten, in Anzügen und Kostümen, und die Gesichter hielten sich noch in einem Zwischenreich auf.
Man sollte mit anderen ausschließlich um sechs in der Früh verkehren, wenn sie noch in ihren Pyjamas stecken, die Haare am Kopf kleben, und ein wenig Spucke im Gesicht. Mit etwas Glück konnte man dann sogar einen Satz hören, der noch nicht gefiltert und kontrolliert worden war.
Als ich mich an den Schreibtisch begab, um eine Gebrauchsanweisung für einen Pulsmesser zu schreiben, merkte ich, dass meine Beine noch vorhanden waren. Es sind mitunter Kleinigkeiten, die einem zu guter Laune verhelfen.
Heute.
Abend.
Zwei Stunden nach Sonnenuntergang kommt wieder Ruhe über die Insel.
Auf der Straße vor meinem Fenster schlendern Chinesen, die vermutlich ihren Gang nicht als Schlendern bezeichnen würden, sondern als zielstrebiges Schreiten. Der Eindruck unentschlossener Bewegung rührt von den anatomischen Gliedmaßengegebenheiten vieler Chinesen her, die für uns O-Beine sind, hierzulande aber normales Gebein.
In den Restaurants sitzen laut redende Festlandtouristen, richtig ruhig wird es nie, denn bereits im Morgengrauen laufen die Fischerboote aus, öffnen die Gaststätten, in denen Einheimische Reissuppe essen, bevor sie auf die erste Fähre gehen, morgens um sechs.
Ich suche das Restaurant auf, das sich unter meiner Wohnung befindet. Fünf Metalltische stehen an einer kleinen Mauer, direkt dahinter das Meer, ein paar Ratten gibt es immer zu beobachten, wenn ich nicht länger in die Dunkelheit starren mag. Am Nebentisch sitzt ein westliches Paar, das sich streitet, befremdlicherweise in einem schlechten Englisch. Vermutlich handelt es sich um Deutsche, die fürchten, erkannt und verachtet zu werden. Ein
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