Der Mann schlaeft
angenehm.
Heute.
Nachmittag. Eher Richtung Abend.
Gleich wird die Sonne untergehen und das Licht wird orange auf die Häuser fallen, die für einige Sekunden schimmern werden, als seien sie niedliche, pubertierende Mädchen.
Die Insel hat geschlafen, den heißen Tag über, jetzt wacht sie auf, es wird voll und laut, und ich benötige lange, um vom Café in meine Wohnung zu gelangen, ohne jemanden zu berühren, um zu schieben, mich schieben zu lassen. Die Treppe hat dreiundzwanzig Stufen, die mir wie vierhundertsiebenundsechzig sind, denn ich weiß, was in der Wohnung wartet. Das Bett. Ich kauere mich darauf und schaue auf die Straße, die durch mein Zimmer zu führen scheint. Sie reden, lachen, murmeln, räuspern sich zwei Meter unter mir. Sie hasten zur Fähre, von der Fähre weg, egal in welche Richtung, dahin, wo sie wohnen, wo sie sich in Sicherheit wähnen, da muss eingekauft werden, und dann kommt der Mann nach Hause, das Kind, es wird gegessen, geschlafen, all diese langweiligen Details des Lebens, die es ausmachen, die wunderbar sind, über die die Menschen, mit denen ich nichts zu tun haben möchte, ungefragt sagen: »Unsere Liebe soll nicht im Alltag sterben.« Ja, wo denn sonst? Ob ihnen klar ist, den Leuten da unter mir, wie schnell etwas passieren kann, mit dem Mann, den Unfällen, den Tsunamis?
Keine Sicherheit für niemanden.
Ich erinnere mich, früher fasziniert von Fernsehsendungen gewesen zu sein, in denen Menschen nach Tragödien vor Kamerasgezerrt wurden, sich zerren ließen, weil sie meinten, ihre Normalität würde wiederhergestellt werden, wenn sie nur ein wenig bedeutend wären, denen im Fernsehen konnte doch nichts zustoßen, weil sie nicht real waren, und dann standen sie und weinten, und sie hoben die Hände und es lief ihnen aus der Nase und sie schrien: »Warum? Warum ich?« – »Warum nicht?« raunte es von oben, dann gingen die Kameras aus, das Fernsehen zog ab zur nächsten Katastrophe, und die Eltern des toten Kindes, die Überlebenden von Erdbeben, Feuer, Flugzeugabstürzen, blieben zurück. Vielleicht verstanden sie selbst dann nicht, dass es keine Ordnung gab, keine Ansprüche ans Leben, und dass sie nicht mehr waren als eine Zellanhäufung, die aus Versehen ein Mensch geworden war, der nicht damit zurechtkam, dass er denken konnte und fühlen. Es ist alles Zufall. Nichts hat man sich verdient, gutes Benehmen garantiert kein langes Leben, es gibt weder Gerechtigkeit noch Vernunft, es gibt keine göttliche Weltordnung oder was auch immer wir herbeisehnen, um uns nicht ausgeliefert zu fühlen. Es kann alles vorbei sein in der nächsten Sekunde, oder noch schlimmer: Es kann alles genauso weitergehen.
Damals.
Vor vier Jahren.
Das, woran ich mich am deutlichsten erinnerte, an dem Tag vor vier Jahren mit dem Mann neben mir auf der roten Bank, war das Gefühl von völliger Unvertrautheit. Ich hatte so einen Menschen noch nie aus der Nähe gesehen, doppelt so groß und schwer wie ich, wirkte jede seiner Bewegungen wie Tai-Chi. Ich hatte keine Ahnung, was so einer dachte, was er fühlen mochte, wie es war, sich in so einem Körper aufzuhalten.
Dieser Tag, der sich mit seinem unentschlossenen Februarwetter durch nichts auszeichnete, weder gab es irgendwo auf der Welt einen neuen Krieg oder Terroranschlag noch Verwüstungen oder Erdbeben, war für mich neben jenem, an dem ich den nuklearen Erstschlag initiiert hatte, einer der bedeutenderen. Sicher hatte ich auch vorher die Gelegenheiten gehabt, den Verlauf meines Alltags kurzfristig zu ändern. Es steht ja jedermann frei, in ein malariaverseuchtes Land zu ziehen, ein Metzger zu werden, der sich durch seinen Beruf intensiv mit dem Tod auseinandersetzt und religiös wird, oder sich ein anderes Geschlecht operieren zu lassen, doch all das hätte meinen Zustand wenig verändert. Die Stimmung, in der jemand sich befindet, lässt sich nicht nachhaltig durch Aktionen beeindrucken. Sie ändert sich allmählich, passt sich den Enttäuschungen an. Wird resigniert oder böse. Soweit ich mich erinnerte, und weit war das nicht, Jugend und Kindheit lagen zu entfernt, als dass ich sie noch mit Gefühlen verband, hatte ich zwischen dreißig und vierzig die angenehmste Zeitmeines Lebens verbracht. Damals, als ich erkannt hatte, dass ich nichts Besonderes war, und trotzdem das Eintreten eines Wunders noch nicht ausschloss.
Die Hoffnung war dann einfach verschwunden, und seit einigen Jahren war mein Zustand ruhig und friedlich, als bewegte ich mich
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