Der Mann schlaeft
merkwürdiges Selbstbewusstsein wohnt dem großen Nordvolk inne, und wann immer ich auf Menschen traf, die sich scheuten zu sagen, woher sie stammten, hatte es sich um Deutsche gehandelt.
Die beiden haben sich auf rührende Weise als Erwachseneverkleidet. Es ist die Sorte Personen, die sich nie gefragt haben, was sie eigentlich wollten, völlig unerheblich, ob es irgendeine Chance gab, es auch zu bekommen. Sie hatten vermutlich überangepasste Eltern, die unter Erziehung vor allem Verbote und Regeln verstanden, die das reibungslose Funktionieren sichern sollten. Als sie den Eltern entwachsen waren, hatten sie vielleicht kurz mit Millionen anderer den Aufstand geprobt, sich als Punker verkleidet oder Atomkraftgegner, um sich dann schnell einzuordnen in die Pullunder- und Halbschuhwelt, in der man eine Ausbildung macht, heiratet, zwei Kinder erzeugt und anschließend leise die Welt verlässt, ohne irgendeine noch so minimale Störung auf ihr hinterlassen zu haben.
Das Paar ist nach dem Streit in ein Schweigen gefallen, das unangenehm Raum greift. Sie sind nicht froh und machen sich gegenseitig dafür verantwortlich, jedes Wort, jede Handlung des anderen wird als Angriff wahrgenommen, weil doch alles so wund ist und traurig in ihnen.
Und nun kommt die Dame, der das Lokal vermutlich gehört, bringt mir Tee und fragt, ob ich »the same« will. Ich will »the same«. Gebratene Nudeln mit undefinierbarem Gemüse. Jeden Tag. In zehn Minuten ist das Gericht in meinem Leib verschwunden, ich weiß, dass der Leib funktioniert, muss mir keine Geräusche meines Magens anhören. Ich kann mir nicht erlauben, jetzt krank zu werden, denn ich muss irgendwann weiterleben, weggehen, hierbleiben, irgendeine Entscheidung treffen, die keinen außer mir interessiert.
Damals.
Vor vier Jahren.
Berufliche Umstände hatten den Mann in die Stadt geführt, in der ich mich seit Jahren unentschlossen aufhielt. Die Damen, mit denen er zu Tisch gewesen war, hatten ungalanterweise über den überstürzten Abgang, den wir vollzogen hatten, nicht hinweggesehen, und so hatten sich die jungen Geschäftsbeziehungen, die sich hätten anbahnen sollen, direkt zerschlagen. Statt wieder dorthin zu fahren, wo er wohnte, blieb der Mann jedoch für eine nicht näher definierte Zeit in meiner Stadt, in der wir, meinen Vorgaben folgend, Befremdliches unternahmen.
Es war unsere erste Verabredung.
Ich hatte eine kleine Tasche dabei, in der ich gerne einen Sprengkopf transportiert hätte, so war nur eine zu grelle Sonne am Himmel, und wir liefen zwischen all jenen, die sich zu einer Demonstrierung der guten Laune um den See versammelt hatten. Vermutlich ist das ziellose Schlendern an sonnigen Nachmittagen eine Beschäftigung, die Menschen Angst macht. Alle scheinen sich in einer kollektiven masochistischen Anwandlung mit der Repetition schreckenerregender Kindheitserinnerungen bestrafen zu wollen; sie laufen hinter adrettem Lächeln und bekommen schlechte Laune, die sie sich nicht erklären können, denn die Sonne ist doch warm und die Wiese satt. Vielleicht gab es damals, in der Kindheit, noch Väter, die so arbeiteten, wie heute nur mehr in Osteuropa und der Dritten Welt gearbeitet wird. In Minen undGruben, Steinbrüchen und Fabrikhallen, mit Giften abgefüllt, der Mensch, in seiner reinen Bestimmung als Humankapital. Da musste noch spazieren gegangen werden. Da wäre keinem eingefallen, auf hässlichen Fahrrädern mit Helm herumzufahren; laufen, das war es. Und einmal Sonne sehen in der Woche.
Der Mann bewegte sich auf eine Weise, wie ich es bislang nur bei aufrecht stehenden Bären gesehen hatte. Wir waren weit davon entfernt, uns wortlos zu verstehen, eine gemeinsame Sprache zu haben, ich hatte eigentlich keine Ahnung, was wir voneinander wollten, möglicherweise gab es doch Instinkte, denen wir entgegen unserer Beschränktheit folgten. So schoben wir uns mit Massen anderer den Uferweg entlang und fragten uns nichts, was ich als wohltuend empfand. Ich bemerkte, dass wir uns an den Händen hielten, ohne dass ich hätte sagen können, wie es dazu gekommen war.
Unsere erste Verabredung war nicht mehr als schweigendes Wackeln am See, und Wohlgefühl auf einer Ebene, auf der ich mich zuvor nicht sehr oft aufgehalten hatte. Der Mann brachte mich zu meiner Wohnung, wir hielten uns, und dann verschwand er in der Nacht. Ich hatte ihn nicht gefragt, wann er zurück nach Hause wollte. Aber ich hoffte, nie.
Heute.
Abend.
Mein Körper ist frei von jeder Energie und
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