Der Mann schlaeft
Das Abteil war leer und ich mir nicht sicher, ob da jemals irgendwer gewesen war.
Heute.
Morgen.
»Es ist mir unangenehm, Ihnen zur Last zu fallen«, sagt das kleine Mädchen in ihrem befremdlich korrekten Englisch, »aber es wäre unhöflich, Sie nicht darüber zu informieren, warum ich hier liege und Ihnen Ihren Morgen verdorben habe. Außerdem sind die Menschen neugierig, und Sie würden zu lange über meine mögliche Geschichte nachdenken, und seien Sie versichert: Das ist sie nicht wert.« Das Mädchen sieht unverwandt aufs Meer, die Sonne ist aufgegangen, und ich biete ihr an, im Restaurant des kleinen Hotels hinter uns zu frühstücken. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Ihre Einladung gerne annehmen«, sagt das Mädchen, und während wir über den Sand laufen, sehe ich uns kurz von oben. Wir wirken wie zwei Figuren aus einem existenzialistischen Film, der sechs Stunden dauert und in dem kaum gesprochen wird, in minutenlangen Sequenzen rinnt Wasser an Scheiben hinunter, und ein nasser Hund eiert am Horizont entlang.
Wenig später im Restaurant versucht das Mädchen zwar, mit Zurückhaltung zu essen, doch es gelingt ihr nicht, zu verbergen, wie ausgehungert sie ist. Ich beobachte sie nicht, um sie nicht zu beschämen, schaue den Strand an, als hätte ich den Hund nicht bereits zur Genüge gesehen.
Es wird wieder ein prächtiger Tag, die Luft ist fast klar, warm und weich, niemand außer uns ist am Strand um diese Zeit, die Kellnerin lehnt in der Tür und sieht aufs Meer, ausdem überall Fußboden ragt. Inseln rufen in mir normalerweise das schwankende Gefühl hervor, mich auf einer kippenden Scheibe aufzuhalten. Diese hier ist in Ordnung, ihre Felsen scheinen mit dem Meeresgrund verankert. Ein silberner Frühnebel liegt über der Fernsicht, und fast vergesse ich die Anwesenheit des Mädchens, das, nachdem es sein Frühstück beendet hat, bewegungslos dasitzt.
»Wir trauern, weil wir etwas vermissen«, sagt das Mädchen, und ihr abwesender Blick gibt dem Satz etwas Flirrendes, was mich nicht nötigt, mit kleinen Lauten Zustimmung zu bekunden. »Ich vermisse meine Mutter. Womit wir schon bei der Ursache meines Problems wären. Sie hat mich vor zwei Wochen zu meinem Großvater gebracht, der hier auf der Insel lebt, hat mich umarmt und gesagt, dass sie ihre Gründe habe zu gehen. Und dass ich nicht auf sie warten solle. Dann ging sie. Ich habe ihr vom Fenster aus nachgesehen, wie sie die Gasse herunterlief, zur Fähre. Und ich bin ihr nicht gefolgt. Ich habe auch meinen Stolz, und wenn mir einer sagt, dass er auf meine Anwesenheit keinen Wert mehr legt, bin ich die Letzte, die ihm hinterherläuft. Aber wie Sie sich denken können, fühlte ich mich furchtbar. Ich kenne ja nur meine Mutter. Mein Vater ist angeblich ein Seemann, der gekentert ist, aber unter uns, an diese Geschichte mag ich nicht mehr so richtig glauben. Tatsache ist, dass ich mein gesamtes bisheriges Leben mit meiner Mutter auf Ap Lai Chau verbracht habe. Das ist eine Insel da drüben –«, das Mädchen zeigt in Richtung Hongkong. »Es ist die dichtestbesiedelte Insel der Welt. Achtundsechzigtausend Menschen je Quadratkilometer. Nun, an so einem Ort aufzuwachsen ist ja immerhin etwas, das nicht jeder von sich behaupten kann. Meinen Vaterhabe ich nie gesehen, noch nicht einmal ein Bild gab es von ihm. Meine Mutter ist eine Person, die man nicht unbedingt als warmen, liebevollen Menschen bezeichnen würde. Sie war immer wie abwesend; auch wenn sie mir körperlich nahe war, befand sich der Teil, der einen Menschen ausmacht, an einem anderen Ort. Insofern ist es vermutlich folgerichtig, dass sie ihrem Geist nun an diesen Ort folgen musste. Vielleicht gewöhne ich mich ja hier ein.« Das Mädchen seufzt und scheint die Aussage ihres letzten Satzes doch stark zu bezweifeln.
»Und dein Großvater?« frage ich. »Was ist das für ein Mensch?« Das Mädchen denkt lange nach.
»Er ist der Masseur hier im Ort, und er ist ein schweigsamer Mann. Wenn Kunden kommen, nickt er ihnen zu, sie erzählen von ihrem Leiden, er nickt wieder und beginnt sie zu massieren. Er ist sehr kräftig, und vielleicht macht er mir ein wenig Angst, ohne dass es einen Grund dafür gäbe, denn er hat mich noch nie angefasst. Also auch nicht umarmt oder Ähnliches. Ich kann das verstehen, denn er hatte sehr lange Zeit keinen Kontakt mehr zu Kindern, oder überhaupt zu jemandem. Meine Großmutter ist vor zwölf Jahren, also bevor ich geboren wurde, gestorben. Seitdem lebt
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