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Der Mann schlaeft

Der Mann schlaeft

Titel: Der Mann schlaeft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sibylle Berg
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Privatsphäre erscheinen musste.
    »Sie starren mich an«, sagte der Mann, und ich versuchte zu tun, als habe ich ihn nicht gehört.
    »Geben Sie es zu, Sie haben mich angestarrt«, beharrte der Herr. Er schien keine Antwort zu erwarten, denn er redete, ohne sich lange aufzuhalten, weiter: »Geben Sie es doch zu, bitte. Sie wären die erste Person, die mich anstarrt.« Freundlich sagte ich: »Ja, vielleicht habe ich Sie ein wenig zu lange angesehen, aber lassen Sie mich versichern, ich habe mich nicht über Sie gewundert.«
    »Eben, das ist es, es wundert sich keiner, keiner sieht mich an, außer jetzt vielleicht Sie, und das geht mir schon mein Leben lang so. Ich war nie einer, von dem man etwas wissen wollte«, fuhr der Mann fort, er schien in Plauderstimmung, und wenn ich etwas wusste, dann, dass man Menschen, wenn sie den Drang zum Erzählen verspüren, nicht unterbrechen sollte, sie werden sonst unbeherrscht und treten nach kleineren Lebewesen.
    »Ich habe meine Durchschnittlichkeit irgendwann erkannt und tatsächlich geglaubt, sie würde mich über den Durchschnitt erheben«, sagte der Mann. »Ich sah immer aus wie einer dieser Männer, die morgens in der Bahn sitzen, undman fragt sich, wie irgendeiner, geschweige denn ihre Frauen, sie auseinanderhalten kann. Die Haare gingen mir früh aus, diese mittelblonden, dünnen Haare, ich hatte einen recht großen Hintern und hängende Schultern, und in meinem Gesicht gab es außer der rechteckigen schwarzen Brille nichts, das nicht Luft geglichen hätte. Es ist erstaunlich, dass ich das alles feststellte, ja, manchmal dachte ich, vielleicht bemerken all diese durchschnittlichen Leute genau wie ich ihre Durchschnittlichkeit, und sie bekommen Krebs davon oder werden Neonazis oder Perverse, irgendwas, weil man aus der Mitte ragen möchte. Ich war auch nie zu großen Gedanken fähig. Gleichwohl hatte ich immer das Gefühl, ich sei doch tiefer als alle diese Männer mit ihren verdammten Halbschuhen, die aussehen wie meine Halbschuhe, aber ich bekam die Tiefe nie in Gedanken gehüllt. Sie lag in mir, und ich kam nicht an sie heran. Das GROSSE, das die Welt oder zumindest meine hätte verändern können, war zu groß für mich. Ich hatte das Gefühl, ich sei im falschen Körper geboren. Eigentlich müsste ich jemand sein, der auffällt, der interessante Gedanken auszudrücken vermag, ein verdammtes Alphatier. Aber nichts da, alles blieb klein und unauffällig. Ich nahm mir eine Frau, und wir hatten kleine Gefühle füreinander, die Frau sah aus wie alle Frauen, die mit Männern wie mir zusammen waren. Ich habe vergessen, wie sie aussah, ich habe vergessen, ob sie jemals einen merkenswerten Satz gesagt hat, einen, bei dem ich hätte denken können: Na, das ist aber jetzt mal ein Satz. Ich glaube, in der kurzen Zeit unseres Zusammenlebens sagte sie nicht einen Satz. Wir wohnten in einer Wohnung, die, wenn man von außen des Nachts hineinblickte, wie alle Wohnungen in dem Blockwirkte, in dem sie sich befand. Ich habe vergessen, was wir da machten.
    Ich habe vergessen, was ich gearbeitet habe. Es fand sicher an einem Schreibtisch statt und hatte mit einem Computer zu tun. Vermutlich habe ich nie denken müssen bei der Arbeit. Bei den meisten Beschäftigungen genügt es ja durchaus, wenn man ein Standardvokabular von zehn Sätzen beherrscht, die alle komplett inhaltslos sind. Als Jugendlicher hatte ich versucht, mich interessant zu gestalten. Ich hatte mich als Punker verkleidet, doch ich war mir der Attitüden gewiss: Ich sah immer nur aus wie ein mittelmäßiger Mensch mit schwarzen Mänteln und abgeschauten Posen. Wenn ich mich morgens betrachtete, bei der Reinigung, kam ein solcher Hass gegen mich in mir auf, und den wusste ich nicht einmal zu nutzen. Weder taugte ich zum Amoklaufen noch als Söldner oder Harleyfan, als Politiker oder Journalist; Dinge, die andere durchschnittliche Männer unternehmen, um sich eine Bedeutung zu geben, waren mir in ihrer verkrampften Bemühung zu offensichtlich. Ich war eine Ameise unter Ameisen, die keine Ameise sein wollte, der aber keine anderen Möglichkeiten einfielen.
    Ich ging irgendwann von zu Hause weg, und seitdem lebe ich in diesem Zug. Ich steige abends aus, wechsle den Zug, steige morgens wieder ein.«
    Die unglaublich farblose Stimme des Mannes hatte mich in einen leichten Halbschlaf versetzt, der sich unbemerkt von mir in einen Tiefschlaf verwandelte, aus dem ich erst erwachte, als der Zug hielt. Mir gegenüber saß kein Mann.

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