Der Mann schlaeft
er alleine und redet kaum. Er hat mir ein Bett bezogen, in einer Kammer, wo sich die Schränke befinden, er stellt mir pünktlich Mahlzeiten auf den Tisch. Er gibt mir Geld für die Fähre in die Schule, und ansonsten habe ich das Gefühl, dass ihm meine Anwesenheit unangenehm ist. Aber vielleicht ist das nur eine Projektion. Er eignet sich hervorragend dafür, weil er wie ein leeres Blatt Papier wirkt. Nicht unbedingt das, was ein Kind meines Alters gut handhaben könnte, das Zusammenleben mit einem Stück Papier, ja, das ist wirklich nichts, waseinen aufheitert, wenn man gerade seine Mutter hat weggehen sehen.«
Der Blick des Mädchens schwimmt ein wenig davon, und ich befürchte, sie könnte zu weinen beginnen.
Ich weiß nicht, ob ich sie in dem Fall trösten kann. Ich kann ja nicht einmal mich trösten.
Lange schweigen wir.
Dann fragt sie: »Würden Sie mich zu meinem Großvater begleiten? Das würde es irgendwie leichter machen, ihm meine Abwesenheit die ganze Nacht zu erklären.«
Zwar gibt es interessantere Dinge, die ich unternehmen könnte, als zu einem schweigenden Großvater zu gehen, den Plattenweg nochmals zu studieren beispielsweise, aber das Mädchen schaut mich aus ihren lidlosen Augen an. Gehen wir, sage ich.
Damals.
Vor vier Jahren.
Je näher ich dem vermeintlichen Standort des Mannes kam – ganz sicher sein sollte man sich ja nie mit der Idee, einen anderen Menschen zu treffen, denn vielleicht war er unterdes verstorben oder in den Krieg gezogen –, desto schläfriger wurde ich. Vielleicht schaltete der Organismus wegen einer unklaren Überforderung auf ein Notprogramm, oder es war einfach das Alter.
Immer nachdrücklicher verabschiedeten sich die Zellen meines Körpers, stellten Schmerzen in den Gelenken her, Übelkeit, und vermutlich war auch meine Sehstärke früher brillanter gewesen.
Der Zug fuhr am See entlang, nach Locarno, ein Ort, der trotz aller Versuche, ihn zu bebauen, bis der Tod einträte, immer noch wirkte wie in einem deutschen Ferienfilm aus den Fünfzigern.
Der Bahnhof schien mit Marmor ausgelegt, vielleicht sollte er einst ein Sanatorium werden, das sich aber gegen den Willen seiner Eltern entschieden hatte, einen anderen Weg einzuschlagen.
Am Ende des Bahnsteigs stand der Mann.
Sie stehen immer am Ende der Bahnsteige und tragen Trenchcoat und Hut und verziehen keine Miene, nehmen die Frau in den Arm und in Besitz und küssen sie. Dann endet der Film.
Der Mann stand unbeholfen da, er trug etwas, das vollkommenegal war, und er wirkte älter, als ich ihn in Erinnerung hatte. Selbstverständlich war er mir fremd, wie sollte es auch anders sein, sind einem doch alle fremd, die man nicht selber ist, und einzig die Gewohnheit macht sie uns ertragen.
Ich hatte daheim versucht, nicht an den Mann zu denken, weder an sein Äußeres, noch wie es sein mochte, einen vollständigen Tag mit ihm zu verbringen, doch hatte mein Unterbewusstsein sich offenbar Bilder gemacht, die sich im ersten Moment nicht einlösten.
Wir standen uns schweigend gegenüber, und ich dachte für Sekunden, dass ich jede weitere Enttäuschung vermeiden könnte, indem ich mich schnell in den Zug begab, der zur Rückfahrt bereit am Gleis wartete. Einige unklare Momente lang schien mir das eine begehrenswerte Alternative zur Ungewissheit, die mir bevorstand, allein ahnte ich, dass ich, hätte ich in jenem Moment aufgegeben, einen bleibenden Schaden davontragen würde, von dem ich nicht wusste, wie er genau aussehen sollte. Wir stiegen in ein Auto, das keinerlei ästhetische Mitteilung machte, fuhren durch mäßig attraktive Gegenden, an Ascona vorbei, das aus dem Autofenster rosa wirkte wie die Hemden der älteren Herren an der Uferpromenade, und parkten neben der Straße am See.
Ein tapezierter Lift fuhr außen am Berg ungefähr zweihundert Meter in die Höhe, und als wir ausstiegen, standen wir auf einer Wiese. Ein Schieferplattenweg führte zum Haus, das eingewachsen zwischen Palmen und Jasmin stand. Ein Bungalow mit großen metallgerahmten Fenstern, innen lagen schwere Holzdielen am Boden, es gab drei Räume, die fast leer waren.
Der Mann hatte das Haus, das sich in der Möblierungdurch keinerlei Geschmack auszeichnete, ein Meisterwerk an Gestaltungsunwilligkeit, rührend gereinigt. Es war das Haus eines Mannes, der kurz davorstand, einsam und schrullig zu werden.
Wenn man aus den Fenstern schaute, die die Räume fast in Wandgröße beherrschten, sah man nur das Blau des Sees und die Brissagoinseln.
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