Der Mann von Anti
Arm, bis sie Schmerz verspürte. Nein, wach war sie – und doch…
Ihr Blick glitt in die Runde, aber es war kaum etwas zu sehen. An der Decke über ihr hing ein Ding, das einer hellen Schale ähnelte. Freilich konnte sie es nur ungenau erkennen. Eigenartig, war sie gar…? Ja, nun verstand sie endlich. Sie war gestorben, zu Tode gepeitscht auf dem Platz vor dem Palast. Und nun weilte sie im Reich der Abgeschiedenen.
Jetzt mußten also ihre ehemaligen Herren kommen und sie bedienen. Hieß es nicht immer, die Sklaven würden nach ihrem Tod zu herrschen beginnen? Sollte Eriba-adad nur kommen! Wie hatte er sie gedemütigt, gequält…
…das Geräusch nahender Schritte hallte wider von den Kerkerwänden. Scherua fuhr auf, ihr Herz raste. Kamen sie schon, sie zu holen?
Vor der Tür verstummten die Schritte, ein Riegel knirschte. Das Gitter öffnete sich. Jemand trat ein. Wer es war, konnte sie nicht erkennen.
»Eine Fackel herein!« befahl eine Stimme, die sie nur zu gut kannte. Flackernder Lichtschein näherte sich, wieder kreischten die Angeln, dann brachte ein Bewaffneter das Verlangte.
Sie sah Hauptmann Nur-ili vor sich.
»Raus!« befahl er. Der Posten gehorchte wortlos. Sie waren allein.
Scherua blinzelte, das Licht blendete sie. »Du bist gekommen…?« Sie wagte es noch nicht zu glauben, ihre Stimme zitterte. »Holst du mich jetzt heraus?«
»Ich bin gekommen«, sagte Nur-ili überlaut, »ich bin gekommen, um dir dein Todesurteil zu verkünden. Die Männer draußen haben Befehl, dich auf den Schloßplatz zu führen. Auf dich wartet der Henker!«
Ein Schauder durchlief das Mädchen. Alle Worte waren sinnlos geworden.
»Einem zum Tode Verurteilten steht ein Wunsch frei. Seine Majestät, König der Könige Eriba-adad, läßt dich fragen, was du begehrst.«
Sie schwieg wie bisher. Wie konnte er das fragen? Gerade er, Nur-ili! War er so ein…?
»So also rächst du dich!« flüsterte sie bitter.
Der Hauptmann hatte es aber doch gehört und erwiderte ebenso leise: »Ich habe einen Befehl erhalten, gerade diese Worte… Draußen hören sie genau zu… ich muß gehorchen.«
»Und ich, ich hielt dich…«
Nach einer drückenden Pause stieß der Offizier hervor: »Ich mußte es tun!«
Scherua blickte ihn stumm an. Wie hatte sie ihn verehrt, den stolzen Krieger, wie davon geträumt, daß er sie eines Tages zu sich nähme. Und nun – er war nicht anders als alle anderen! Er hatte sie verraten…
Die Zeit verging, von draußen klang das Klirren der Waffen und Panzer herein, wenn die Krieger der Schloßwache auf und ab gingen.
»Komm!« murmelte er.
Sie schlug die Augen wieder auf, die sie bei der Erinnerung unwillkürlich geschlossen hatte.
Neben ihrem Lager stand ein Kasten. Sein Deckel war glatt und kühl, sie strich zögernd mit der Hand darüber. Offenbar war das ein Stein. Und so fein bearbeitet! Derartig große, geschliffene Platten waren in Ninive mindestens hundert unberührte Sklavinnen wert.
Etwas wie eine Glocke stand darauf. Schüchtern tastete das Mädchen danach und zuckte gleich wieder erschrocken zurück. Man konnte das Ding verschieben! Was das bedeuten mochte?
Ob nicht bald die Götter kamen? Scharrat, eine Leidensgefährtin, hatte gesagt, jeder Tote würde den Unsterblichen vorgeführt, damit sie über ihn entschieden. Es mochte an der Zeit sein.
Vielleicht war es besser, wenn sie sich vom Lager erhob? Vor den Göttern mußte sich der Mensch zu Boden werfen, um seine Ehrfurcht zu zeigen. Doch sie fühlte sich noch schläfrig und müde. Außerdem war es dunkel. Die Götter würden sie gewiß erst nach Tagesanbruch aufsuchen.
Auf einmal wehte ein frischer Luftzug über sie. Ein schleifendes Geräusch war zu hören, dann knackte es leise. Unvermittelt wurde es hell. Die Götter kamen!
Scherua begann zu zittern und kroch unter die Decke. Sie hörte, wie sich jemand näherte und schließlich auf dem Schemel neben ihrem Lager Platz nahm.
Nach langer Zeit, als nichts weiter geschehen war, blinzelte sie unter der Decke hervor.
So sah eine Göttin aus? In ein weißes Gewand von fremdartigem Schnitt gehüllt, thronte neben ihr eine Frau mit mattbraunen, von einem weißen Kopfschmuck bedeckten Haaren. Durch ihr Gesicht zogen sich einige Faltchen, sie zeigten Besorgnis und wohl auch Kummer. War sie die Göttermutter?
Scherua lag regungslos. Was sollte sie tun? Am besten war es wohl, wenn sie sich überhaupt nicht bewegte und nur abwartete. Die Göttin möge befehlen!
Die Göttin schwieg – und begann zu
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