Der Mann von Anti
in den Raum.
Man konnte weit hinausschauen. Der Blick erfaßte große Bäume, wie sie sie noch nie gesehen hatte. Das waren keine Tamarisken, keine Palmen, nichts Gewohntes. Sie hatten dicke, knorrige Stämme und viel, viel Laub. Rasch zogen die Wolken am Himmel dahin, der Wind mochte stark sein, beinahe ein leichter Sturm – wenigstens da oben.
Und unten? Während sich Scherua nach vorn lehnte, stieß ihr etwas gegen die Stirn. Sie fuhr zurück. Wer hatte sie gestoßen?
Niemand war zu sehen. Diesmal streckte sie die Hand vor, wieder zuckte sie zusammen. Da war etwas, was sie nicht sehen konnte und was doch da war.
Hinter ihr erklangen leise Schritte. Scherua drehte sich um und erkannte die weißgekleidete Unsterbliche. Wie immer lag ein leises Lächeln auf ihren Lippen. Wenn sie doch nur mit ihr sprechen könnte! Sie wies auf das Seltsame.
Die Göttin trat neben sie und klopfte mit dem Finger gegen die unsichtbare Wand. Niemand schlug zu; alles blieb, wie es war. Es klang nur etwas sonderbar, aber weiter geschah nichts.
Schließlich wagte das Mädchen auch, das kaum Faßbare zu berühren. Ein wenig neugierig betastete sie den durchsichtigen, unsichtbaren Stein. Er mochte unermeßlich wertvoll sein – in ganz Ninive besaß niemand solch einen Schatz.
Plötzlich kam sie darauf: Waren die Götter nicht mächtig genug, dem Wasser zu befehlen, daß es fest zu sein habe?
Dieses unsichtbare Ding war von Holzleisten umgeben, die wohl die Machtwirkung es Götter Spruches begrenzten. An deren rechtem Rand blitzte Metall. Die Unsterbliche faßte danach und drehte es. Es quietschte leise, dann klappte der hölzerne Rahmen zur Seite. Ängstlich war Scherua zurückgetreten. Da aber nur ein kalter Windstoß hereinfuhr, schöpfte sie wieder Mut. Diesmal gab sie mehr acht, als sie den Kopf wieder hinausstreckte. Wer konnte wissen, ob die unsichtbare Scheidewand nicht doch noch da war – oder etwa eine zweite! Freilich zeigte sich weder das eine noch das andere.
Sie hörte nun das Rauschen des Windes in den Bäumen; von weit her klang leises Brummen, wurde lauter und schwoll wieder ab; Vögel zwitscherten und kreischten, und manches unbekannte Geräusch trat noch dazu.
Nun konnte sie auch ohne Schwierigkeiten hinuntersehen. Das Zimmer befand sich zwei oder gar drei Rohr ∗ hoch über dem Erdboden. Unten wuchs dichtes, sattgrünes Gras – auch etwas, was im heimatlichen Ninive kaum zu sehen war. Büsche und Stauden säumten einen kiesbestreuten Weg, der sich in einem Wäldchen verlor.
Soviel Scherua vor dem Haus, in dem sie jetzt wohnte, sehen konnte, war es seltsam gebaut. Keine massiven Mauern – und so viele Fenster! Es war eben ein Götterpalast, den niemand angreifen konnte.
Als sie sich umwandte, sah sie das merkwürdige, durchsichtige Gestein aus nächster Nähe. So unsichtbar war es gar nicht! Wenn man nur schräg genug darauf blickte, spiegelte sich alles darin, und es glänzte matt. Trotz des Spiegels sah sie auch die dahinterliegenden Teile der Wand. Eigenartig – aber bei flachem Wasser gab es das natürlich, und wenn das Wasser hart wurde, konnte sich das nicht ändern. Da ihr kühl wurde, trat die kleine Assyrerin vom Fenster zurück. Die Göttin zeigte ihr, wie diese durchsichtig-undurchdringbare Wand wieder zu schließen sei. Es war wirklich ganz leicht, Scherua probierte es aus, und es gelang.
Schüchtern erkundigte sie sich, ob sie nicht einmal hinausgehen könne. Da die Unsterbliche sie nicht verstand, nahm sich Scherua vor, die Frage zu wiederholen, wenn jener Gott kam, der ihre Sprache beherrschte.
Ihn etwa selbst herbeizurufen, wagte sie nicht…
… aber die Götter konnten ja die Gedanken der Menschen lesen; einen Augenblick später betrat der Hagere den Raum und begrüßte sie mit freundlich-zurückhaltendem Lächeln. Scherua wollte sich, wie man es sie gründlich genug gelehrt hatte, zu Boden werfen. Die Göttin hielt sie zurück und bedeutete ihr, das sei nicht notwendig.
∗ Etwa vier bis fünf Meter.
»Du hattest einen Wunsch?«
»Darf ich, o Herr, darf ich… da hinaus, dort einmal hinausgehen? Ich würde so gern…«
»Es ist kalt, und du wirst frieren«, murmelte er und sagte einige Worte in der für Menschen unverständlichen Sprache. Die Unsterbliche nickte und verließ das Zimmer. Bei ihrer Rückkehr hatte sie einen Mantel zum Umlegen mit.
Zu dritt begaben sie sich in den Gang vor ihrem Zimmer und erreichten eine schmale Treppe. Scherua wunderte sich ein übers andere Mal über die
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