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Der Mann von Anti

Der Mann von Anti

Titel: Der Mann von Anti Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ekkehard Redlin (Hrsg)
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merkwürdige Bauweise der Götter. Die unzuverlässig dünnen Mauern, jetzt die enge Treppe!
Unten glitt eine Tür von selbst beiseite. Sie standen im Freien. Ein heftiger Windstoß ließ das Mädchen frösteln. Scherua hüllte sich noch enger in den Mantel. Obgleich die Sonne hoch am Himmel stand, war es nicht warm. Der kiesbelegte Weg, den sie von oben aus gesehen hatte, breitete sich vor ihr aus. Sie ging und schaute sich neugierig nach allen Seiten um.
So seltsam war es nun auch wieder nicht. Der Palast sei freilich merkwürdig, sagte sich das Mädchen – aber mußten die Götter nicht notgedrungen anders leben als die Sterblichen?
Der Weg schlängelte sich unter den Bäumen dahin. Hier, im Schatten der dichten Kronen, war es noch kälter. Scherua strebte einer Stelle zu, an der wieder die Sonne durch das Blätterdach drang. Nach mehreren Schritten erweiterte sich der Pfad zu einer kleinen Lichtung, auf der mehrere hölzerne Bänke standen. Bunte, fremdartig schöne Blumen wuchsen überall. Pflegten die Götter hier ihre Beratungen abzuhalten?
Von dieser Stelle aus konnte sie über eine größere offene Fläche blicken. Offensichtlich befanden sie sich auf einer Terrasse, die durch ein kunstvoll geschmiedetes Gitter abgegrenzt war.
Ob das etwa…? Nein, darüber kann selbst ein Kind hinwegsteigen, dachte Scherua und lächelte ein wenig. Sie fühlte sich erleichtert, denn trotz aller Versprechungen fürchtete sie noch immer, eine Sklavin zu bleiben. Wie mochte das nur sein – frei?
Weiter unten… wirklich, da saßen noch andere Wesen auf ähnlichen Bänken. Waren das auch alles Götter? Nein, es mußten Verstorbene sein.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte der andere, als sie einen Schritt zurückwich, »niemand tut dir ein Leid. Die Menschen, die du da unten siehst, sind krank. Sie werden gepflegt, bis sie wieder gesund sind.«
»Aber sie sind so… merkwürdig gekleidet!«
»Das ist bei uns üblich. Du spürst es ja selbst: Hierzulande ist es kälter als in Ninive, Assur oder Kalach. Deshalb muß man sich eben wärmer anziehen.«
Scherua erwiderte nichts. Sie gingen zurück.
»Du darfst jederzeit hier Spazierengehen«, eröffnete ihr der Hagere, als sie oben in ihrem Zimmer waren. Das Mädchen nickte unsicher.
»Schwester Dolores«, er wies auf die Göttin, »wird dich die ersten Male begleiten. Wenn du dann weißt, wie man die Türen öffnet und schließt, magst du auch allein gehen. Nur verlasse nie den Weg! Du wirst noch manches lernen müssen. Deswegen solltest du nie vor unbekannten Dingen zurückschrecken, ehe du sie kennengelernt hast.«
Scherua war viel zu verwirrt, als daß sie eine Antwort zustande gebracht hätte. Sie nickte schwach.
Der Wind war endlich eingeschlafen! Die Sonne strahlte, am Himmel ließ sich kein Wölkchen erblicken, aber es war kühl. Scherua saß auf einer Bank. An diese Art des Sitzens konnte sie sich nur schwer gewöhnen. Aber der Boden war viel zu kalt, um sich niederzuhocken, wie sie es gewohnt war.
Still und neugierig schaute sie zu den anderen Menschen hinunter. Sie gingen auf und ab, der Klang ihrer Stimmen drang herüber. Niemand schenkte ihr einen Blick, keiner beachtete sie. Das Mädchen war es gewohnt, aber es schmerzte sie doch. In demselben Atemzug schalt sie sich eine Undankbare. Hatte sie mehr erwartet? Durfte sie hoffen, wie eine Freigeborene behandelt zu werden? Das Mal der Sklavin schied sie auf ewig von den anderen.
Mehrere weißgekleidete Göttinnen und Götter sprachen mit den Kranken oder stützten Schwache bei ihren Gehversuchen. Wie viele Götter gab es doch! Sie kannte nur wenige mit Namen: Assur, den Reichsgott – den mußte man kennen! –, Adad, den Wettergott, den alle fürchteten; Istar, beherrschte die Liebe – nein, sie wollte nie mehr an Nur-ili denken! Dann gab es noch Nergal, dessen Namen niemand gern aussprach; Marduk, den die Leute aus Bab-ilu anbeteten; Sin, den sanften Mondgott; Samas, den Herrn der erbarmungslosen Sonne; Bel, Nabu, Ea und die anderen. Scheu dachte sie an Anu, den Vater der Götter. Ob sie ihn einmal sehen würde?
Aber so viele, wie sie hier erblickte – so viele waren es gewiß nicht!
Das leise Knirschen des Kieses ließ sie auffahren. Einer der Götter näherte sich. Sie sah ihm ängstlich entgegen. Auch wenn ihr bislang niemand etwas zuleide getan hatte, wer konnte wissen, was nun geschah? Sie kannte Leidensgefährtinnen, die sich schon in Frieden und Sicherheit geglaubt hatten und denen dann…
Es war nicht

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