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Der Mann von Anti

Der Mann von Anti

Titel: Der Mann von Anti Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ekkehard Redlin (Hrsg)
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der Hagere, es war ein Fremder.
Ein paar Schritte vor ihr blieb er stehen, neigte den Kopf zum Gruß und setzte sich auf die Bank neben der ihren.
Scherua starrte ihn an. Er hatte sich vor ihr verneigt? Vor ihr? Kannte er das Mal auf ihrer Stirn so wenig, oder wollte… nein, unmöglich! Gewiß hatte er sie mit jemandem verwechselt. Was würde nun mit ihr geschehen; wie würde man sie dafür strafen? Sie hätte den Gruß unter keinen Umständen annehmen dürfen.
Es vergingen einige Augenblicke.
»Du mußt keine Angst haben«, sagte der Fremde schließlich. Er war groß, schlank und dunkelblond. Das weiße Gewand stand ihm gut, viel besser als dem Hageren.
Sein Assyrisch war schlecht zu verstehen, und das Mädchen vergaß sich soweit, darüber zu lächeln.
»Wie gefällt es dir bei uns?« wollte er nach einiger Zeit wissen. »Wirst du satt vom Essen? Hast du noch immer Schmerzen? Woran hast du Mangel?«
Sie setzte zum Sprechen an, verstummte aber noch vor dem ersten Wort.
Was sagte man dem Gott?
»Sprich ruhig; nur sprich bitte langsam, ich verstehe dich noch nicht gut.«
Das glaubte ihm Scherua gern, sie hatte es ja gehört. Dennoch dauerte es eine Zeit, bis sie sich überwand.
»Es ist so kalt hier, Gebieter…«
Ein Lächeln glitt über das schmale, ebenmäßige Gesicht des Gottes. »Ich bin nicht dein Gebieter. Nenne mich Konrad. Im übrigen hast du recht – für dich ist es nicht sehr warm. Zieh dich dick an.«
»Was werdet ihr mit mir machen?« erkundigte sie sich nach einer langen Pause leise.
Der Unsterbliche ließ sich die Frage wiederholen; er schien – für einen Gott beschämend! – nicht sehr sattelfest im Assyrischen zu sein. Danach schwieg er, offensichtlich suchte er nach Worten.
»Du wirst noch kurze Zeit hier bleiben. Du wirst unsere Sprache erlernen – es ist nicht schwer. Wenn du dich an unsere Welt gewöhnt hast, bis du völlig frei. Niemand hält dich, du magst tun und lassen, was dir gefällt.«
Es dauerte lange, bis sie ihn verstanden und seine Worte verarbeitet hatte.
»Ich habe mir die Unterwelt ganz anders vorgestellt. Wo sind denn die vielen Toten aus Ninive und Assur? Sie können doch nicht weit sein.«
Der Gott lachte leise auf. »Fühlst du dich so, als ob du tot wärest?«
»Ich habe doch die Peitsche gespürt… mein Rücken war noch wund, als ich…« Sie verstummte.
»Das ist richtig, Scherua. Du warst arg verletzt. Aber ehe du starbst, haben wir dich weggeholt.«
»Wer?«
»Um ehrlich zu sein: Ich.«
Jetzt verstand sie überhaupt nichts mehr. Wollte er sagen, daß sie nicht tot war? Wie aber kam sie dann ins Land der Unsterblichen?
»Warum tatest du das?« fragte sie, als er schwieg. »Brauchst du eine Sklavin…?«
»Nein!« Seine Stimme klang heftig. »Bei uns gibt es keine Sklaven. Du tatest mir leid, und deshalb griff ich ein… Hätte ich es nicht tun sollen?«
Scherua schaute ihn erschrocken an. Sie verstand ihn nicht ganz, aber daß sie ihn erzürnt hatte, war klar. Der Fremde wiederholte, und nach und nach begriff sie recht gut.
»Doch… es war gut von dir. Ich danke dir… Aber hier ist alles so fremd für mich.«
»Du wirst dich eingewöhnen.«
Die Zeit verstrich, ohne daß noch etwas gesagt wurde. Dann ertönte die Glocke, die – wie das Mädchen wußte – den Besuch des Heilkundigen ankündigte. Es hieß also aufstehen und hinaufgehen.
»Wenn du möchtest«, bemerkte der Unsterbliche, »erzähle ich dir morgen, wie wir dich gerettet haben.«
Scherua befahl sich, ruhig zu bleiben. Wieder an das Furchtbare erinnert werden? Nur nicht! Aber wenigstens eines hatten die Unsterblichen mit den Offizieren und dem König gemeinsam: Sie sprachen gern und oft von ihren Ruhmestaten. Und wie könnte sie einem Gott widersprechen?
Scherua nickte und sagte leise: »Wie du es wünschst.«
    Wieder saßen sie auf der kleinen Terrasse. Scherua ging im stillen die assyrische Götterliste durch. Nein, einen Gott namens Konrad gab es darin nicht. Unbegreiflich.
    »Eriba-adad kann uns nichts tun«, sagte er. »Niemand wird dich bestrafen, wenn du über ihn sprichst. Ich weiß, daß es in Ninive verboten war, über den Herrscher anders als lobend zu reden. Hier ist das anders.«
    Sie blickte ihn stumm und prüfend an. Durfte sie ihm vertrauen?
»Und glaube mir«, fuhr er fort. »Du wirst dich leichter fühlen, wenn du dir alles von der Seele geredet hast. Nachher vergißt du es und denkst nie mehr daran. Es ist für dich vorbei. Für immer!«
Der Unsterbliche legte ihr eine Decke um die

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