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Der Mann von Anti

Der Mann von Anti

Titel: Der Mann von Anti Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ekkehard Redlin (Hrsg)
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mich noch genau. Wie jeden Tag ging ich zum Zeitungsstand am Bahnhof, suchte die neuesten Tageszeitungen heraus und setzte mich dann in eine Ecke im Wartesaal, wie jeden Tag, seit fast zwei Jahren. Die ersten Zeitungsseiten bringen immer nur Politik, die überblättere ich schnell. Ist ja immer dasselbe, und was kommt dabei heraus? Nichts! Dann sah ich mich vorsichtig um, wollte doch nicht von Bekannten oder ehemaligen Arbeitskollegen gesehen werden. Denn nun las ich Zeile für Zeile: Stellenangebote! Manche kreuzte ich an, mit einem weichen Bleistift. An die Druckstifte habe ich mich nie gewöhnen können. Mit einem Bleistift kann ich Kreuzworträtsel lösen, dicke und große Druckbuchstaben einsetzen. Und wenn die Lösung mal nicht stimmt, mit dem angeleckten Finger auslöschen und etwas anderes einsetzen, Hauptsache, die Lücken sind ausgefüllt.
Als ich entlassen wurde, vorher vierundzwanzig Jahre dem Werk die Treue gehalten, bestand mein Vermögen aus dreitausend Mark, einer Lebensversicherung und dem Wagen, vor sieben Jahren gekauft, nun aufgebockt und bei der Steuer abgemeldet. Jetzt war kaum noch etwas von meinem Besitz geblieben; doch, der Wagen, den wollte niemand, und die Lebensversicherung, die hatte ich mir vorzeitig auszahlen lassen müssen.
Am Nachmittag versuchte ich es beim Arbeitsamt. Das ist ein alter Backsteinbau aus der Kaiserzeit; halbdunkle Gänge und harte Holzbänke. Im Glaskasten hängen immer die Angebote. An dem Tag las ich gerade:
»Diplomphysiker mit mehrjährigen Auslandserfahrungen und Sprachkenntnissen (Englisch, Französisch und Spanisch) dringend gesucht! Anfangsgehalt dreitausendfünfhundert.
Buchhalter gesucht, mit neuesten Buchungsmaschinen vertraut, Aufstiegsmöglichkeiten gegeben! Anfangsgehalt neunhundert.«
Aber ich war kein Diplomphysiker und auch kein Buchhalter. Ich war Walzwerker gewesen, davon fünfzehn Jahre Meister, jetzt, mit fünfzig Jahren, zu alt für einen Betrieb mit Automatisierung.
Ich stellte mich am Schalter an, hatte einen ruhigen Tag erwischt, nur vier Kumpels vor mir, dann kam ich dran. Der Beamte erkannte mich. Und er gab mir einen kleinen Zettel. Da wußte ich gleich, jetzt hatte ich es endlich geschafft. Wer bei uns wirklich arbeiten will, der findet auch eine Arbeit –!
Auf dem Zettel stand: Wächter gesucht für Freizeitsiedlung, Vertrauensstellung, Vorstellung erforderlich, Grau, Ruf 81027712. Ich rief sofort von der nächsten Telefonzelle an.
»Herr Grau ist heute erst ab achtzehn Uhr zu erreichen, am besten, Sie kommen hier vorbei«, sagte eine Stimme am anderen Ende der Leitung. »Ab Hauptbahnhof mit der Buslinie elf bis zur Endstation, dann immer am Wasser entlang, zwanzig Minuten etwa, wenn Sie keinen Wagen haben, fragen Sie in ›Onkel Toms Hütte‹!«
Ich saß lange allein auf der Veranda. Aus der Gaststube hörte ich Nachrichten: eine Prinzessin hatte ein Kind bekommen, ein Minister war in einen Sittenskandal oder eine Bestechungssache verwickelt oder in beides, Raubmörder aus dem Zuchthaus ausgebrochen, Sparkasse ausgeraubt, eine Angestellte erschossen – nichts Besonderes.
»Sie sind also der Neue«, sagte da plötzlich ein Herr und setzte sich mir gegenüber. »Mein Name ist Grau. Haben Sie Ihre Papiere mit? Zeugnisse? Trinken Sie was? Ich nehme immer
›Puschkin für harte Männer‹.« Er winkte zur Theke, ein Jüng
ling brachte eine Flasche, drehte den Verschluß auf, schenkte zwei Gläser halb voll und ließ die Flasche vor uns stehen.
    Und Herr Grau meinte: »Anfangsgehalt achthundert, Versicherung müssen Sie selbst tragen. Hier ist ein Hunderter für den Anfang.«
So war das!
    Heute ist der dritte Juni. Am Morgen war der Sand durch einen wolkenbruchartigen Regen reingewaschen. Aber eine Menge Spuren bemerkte ich, die zu den Booten führten, die ich bei Einbruch der Dunkelheit immer auf Anschluß an einen der eingerammten Pfähle kontrollieren mußte. Jetzt war bei drei Booten die Kette durchgeschnitten, die Boote auf den Strand geschoben. Sonst aber hatte sich nichts verändert.
    Als ich gegen Mittag Herrn Grau sah, winkte er ärgerlich ab. »Die Leute hier wollen ihre Ruhe haben. Bringen Sie die Sache wieder in Ordnung, und halten Sie den Mund darüber. Fangen Sie nicht auch an wie Ihr Vorgänger, der trank zuviel, und dann sah er weiße Mäuse und sonst noch was. Alkohol und Sonnenlicht, das verträgt sich nicht! Ich will Ihnen mal erzählen, wie das mit diesem Redlich war. Der rief mich eines Morgens in der Stadt an, ich

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