Der Mann von Anti
ganze Zeit gestanden hatten, nämlich am Anfang. Der Papierfetzen erwies sich als in jeder Hinsicht neutral.
Sie lagen ausgestreckt in ihren Sesseln. Schweigsam und mutlos. Fast so bewegungslos wie die Leute, denen sie ihre Bekanntschaft verdankten. Nur – die einen schliefen ihrer Heilung entgegen, und die anderen dachten nach.
Schließlich gab es der Klärer auf. »Schluß für heute. Geklärt werden muß es, da kommen wir nicht drum herum, aber wir müssen warten, bis uns die vier selber verraten, wo das Rätsel seine Lösung hat.«
Am nächsten Tag traf man sich in der Intimklause 87. Fröhlich und zufrieden, denn im Grunde war nichts geschehen. Was mit höchster Alarmstufe begonnen hatte, schien als Farce zu enden.
Man wartete auf eine Erklärung der Betroffenen, aber die beiden Rhapsoden, die Verkosterin und die Archibildnerin schwiegen. Sie schwiegen sehr lange.
Die Verkosterin war’s, die als erste die peinliche Stille durchbrach.
»Es war meine Schuld, ich hätte wohl besser aufpassen müssen.«
»Wieso du?« sagte ihr Gefährte schnell. »Du hast es nur hergestellt.«
»Es war eine sehr alte Schwarte«, sagte der andere leise, »eine Kochschwarte.« Er seufzte und sah schwärmerisch in irgendeine Ferne.
Allseitiges Achselzucken beim Soforteinsatz, verbunden mit Augenbrauenhochziehen und gegenseitigem Anblicken. Ein Luftkissen wurde in Schwebe gesetzt, um die Kochschwarte zu holen.
Ein Fall, der nur aus Warterei besteht, ging es dem Klärer durch den Kopf, aber er sagte nichts. Seit gestern war ihm klar, daß man mit Rhapsoden sanft umgehen mußte. Im stillen bedauerte er sie.
Endlich kam das Luftkissen zurück. Der Rhapsode klaubte ein uraltes Buch aus der Greifklaue und reichte es dem Klärer, der es mit Sorgfalt und Andacht entgegennahm. Vorsichtig schlug er es auf, aber er konnte nichts damit anfangen. Er war außerstande, die Schrift zu lesen. So alt war das Buch!
Er gab es dem Schwartenmann zurück. »Lies vor.«
Aber der reichte es an die Archibildnerin weiter. »Sie ist die einzige, die das lesen kann.«
»Die aufgeschlagene Stelle?« fragte sie.
Er nickte. »Du hast den Klärer doch gehört.«
Sie begann mit ihrer klangvollen Altstimme zu lesen: »Vorwort der Verfasserin. ∗ Der oberste Grundsatz aller Kochkunst ist der, mit möglichst wenig Aufwand an Geld und Zeit eine gesunde, nahr- und schmackhafte Kost herzustellen… Diesen Zweck eines Kochbuches zu erfüllen… habe ich mich nach den besten Kräften bestrebt. Da dasselbe speziell für den Mittelstand bestimmt ist…«
»Was ist Mittelstand?« unterbrach der Klärer, leicht verärgert, weil er immer noch keinen Schritt in Richtung der Klärung erkennen konnte. Für ihn sah das alles nach Vertuschen und Verwässern aus. »Ich kenne nur Wasserstand, Handstand, Umstand, Tiefstand, Bestand, Beistand…«
»… und der Anstand, lieber Freund, wer wird denn gleich…«, hielt ihn der Menschenkundler zurück. »Ausreden lassen, zu Ende lesen lassen, das fordert der Anstand.«
»Bitte«, sagte der Klärer mit einem langen Blick zur Decke, und die Archibildnerin ließ wieder ihre Altstimme hören.
»… so sind auch die sorglich ausprobierten Regeln durchgängig einer guten Hausmannskost entsprechend ausgewählt. Und läßt die junge Hausfrau bei Zubereitung der angeführten Gerichte die nötige Ordnung, Sauberkeit und Sorgsamkeit walten und vertieft sich mit Liebe in das Studium dieses getreuen Ratgebers in ihrer Küche, so wird derselbe sicher dazu beitragen, das Glück und Behagen des jungen Haushaltes zu erhöhen und zu erhalten, denn bekanntlich geht ja bei den Männern die Liebe durch den Magen, und nichts vermag den Ehemann so ans Daheim zu fesseln – materiell, wie die Männer nun einmal sind…«
Unterdrücktes Stöhnen ließ die Vorleserin innehalten. Der Menschenkundler, hochrot im Gesicht und nach Luft ringend, hatte sich auf eine Bank fallen lassen. »Fertig?« ächzte er.*
»Nein«, sagte die Archibildnerin erstaunt, »es geht noch weiter.« Sie hob das Buch an die Augen und wollte fortfahren.
»Bitte, bitte nicht«, beschwor sie der Menschenkundler. »Und wenn ich jetzt gegen alle Regeln des Anstandes verstoße, bitte lesen Sie nicht weiter, oder ich garantiere für nichts. Ich falle um, einfach um. Wer soll das anhören, durchdenken, verstehen und nicht in eine akute psychische Vergiftung geraten?«
Der Klärer begriff blitzartig. »Damit wäre ja wohl der Fall geklärt. Akute psychische Vergiftung.«
»Ganz Ihrer Meinung, Herr
Weitere Kostenlose Bücher