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Der Mann von Nebenan

Der Mann von Nebenan

Titel: Der Mann von Nebenan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amelie Fried
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Steine, auf gesplitterte Holzbalken und eingestürzte Wände. Wo das Holzlager gestanden hatte, ragten verkohlte Mauerreste in die Höhe; nur Teile des angrenzenden Wohnhauses waren noch erhalten.
    Das war doch nicht möglich. Hatte sie den falschen Weg erwischt? Mit zitternden Knien stieg Kate aus dem Wagen und ging einige Schritte auf die Trümmer zu. Nein, es gab keinen Zweifel. Sie entdeckte das zerbrochene Firmenschild: »Jacques Marivaux, negociant en bois pour luthiers«.
    In rasendem Tempo fuhr Kate den staubigen Feldweg zurück ins Dorf. Sie erinnerte sich an ein Bistro, wo sie mal mit Jacques gesessen hatte. Dort würde sie vielleicht erfahren, was passiert war.
    Vor der Kirche parkte sie und lief durch die engen Gassen, bis sie glaubte, das Bistro wiedererkannt zu haben. Die übergewichtige Wirtin erhob sich schwerfällig, als Kate Platz genommen hatte, und brachte ihr eine Karte. In einer Ecke saßen drei alte Männer beim Würfelspiel, Gläser mit Rotwein vor sich.
    »Pardon, Madame, je suis … je cherche Monsieur Marivaux, ähm, Jacques, le negociant en bois«, stammelte Kate.
    Ihr Französisch stammte noch aus Schultagen und ließ, was den aktiven Wortschatz anging, zu wünschen übrig. Wenn nicht zu schnell gesprochen wurde, verstand sie aber das meiste.
    Als sie den Namen des Holzhändlers genannt hatte, begann die Wirtin sofort, aufgeregt mit den Händen gestikulierend, zu reden. Die drei Männer unterbrachen ihr Spiel, um immer wieder Ergänzungen in den Fluß ihrer Erzählung einzustreuen. Kate lauschte ihnen mit wachsendem Entsetzen.
    Jacques, der ein ungeduldiges und aufbrausendes Temperament hatte, war von Yvette, seiner Frau, verlassen worden. Sie war zu ihrem Geliebten gezogen, der nur wenige Höfe entfernt lebte. Jacques hatte getobt und gefleht, gedroht und gewinselt – ohne Erfolg. Yvette war hart geblieben, und Jacques war zum Gespött des ganzen Dorfes geworden.
    Er hatte angefangen zu trinken und sein Geschäft zu vernachlässigen. Der Haß auf seinen Rivalen hatte ihn fast um den Verstand gebracht. Eines Tages war ihm die perfide Idee gekommen, einen Heuballen mit einer Sprengladung zu präparieren, um den Hof seines Feindes in die Luft zu jagen. Statt im Heuschober des Geliebten landete der Heuballen jedoch in seinem eigenen Schober – sein ahnungsloser Vater hatte Yvette um ein paar Zentner Heu für Jacques gebeten …
    »Er hat also seinen eigenen Hof in die Luft gesprengt?« fragte Kate atemlos, und vier Köpfe nickten gleichzeitig.
    »Und was … was ist aus ihm geworden?«
    Einer der alten Männer zog die Hand unter dem Kinn durch.
    »Il est mort.«
    Die anderen machten bedauernde Gesichter. Die Wirtin bekreuzigte sich.
    Kate war sprachlos. Sie hatte den Holzhändler immer für einen herzensguten Kerl gehalten; nicht im Traum hätte sie ihm einen solchen Plan zugetraut.
    »Vous voulez?«
    Die Wirtin hob fragend ein Glas in die Höhe, und Kate nickte dankbar.
    Spät in der Nacht, als sie schwer angetrunken zum Dorfgasthof wankte, fiel ihr ein, daß sie unbedingt Samuel anrufen mußte. Der schlaftrunkene Besitzer des Gasthofes drückte ihr das Telefon in die Hand, und sie wählte Malises Nummer. Sie ließ es ein paarmal klingeln, dann legte sie auf. Offenbar schliefen alle schon.
     
    Am nächsten Morgen beschloß sie, die Heimreise anzutreten. Ihre Abenteuerlust war verflogen, sie fühlte sich einsam und deprimiert. Mit dem Holzhändler war eine weitere Person aus ihrem Leben verschwunden, die so etwas wie Gewißheit bedeutet hatte. Sie hatte ihre Eltern verloren, sie hatte Bernd verloren, vielleicht würde sie auch Samuel verlieren. Sie hatte keinen Ort, wo sie sich sicher fühlen konnte, nicht mal in ihrem eigenen Haus. Da am allerwenigsten.
    Kate fuhr, den Blick angestrengt auf die Straße gerichtet, durch endlosen Regen. Sie betete, daß der altersschwache Scheibenwischer nicht den Geist aufgäbe.
    Der Scheibenwischer hielt durch, andere Teile des Wagens nicht. Gegen Mitternacht, kurz nach Karlsruhe, verendete der Motor. Nachdem sie zehn Minuten vergeblich versucht hatte, den Wagen neu zu starten, gab sie auf.
    Sie schnappte ihre Reisetasche, deponierte das Warndreieck auf der Heckablage und machte sich zu Fuß auf den Weg. Sie hatte Glück – nur drei Kilometer trennten sie von der nächsten Tankstelle.
    Kate zog Kaffee aus einem Automaten und setzte sich an einen der schmierigen Plastiktische. Annette, ihre Busenfreundin aus vergangenen Tagen, wohnte mit ihrer Familie

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