Der Mann von Nebenan
sie nach der Niederlage in Los Angeles fallengelassen hatten. Die Enttäuschung war wohl zu groß gewesen. Die ganzen Jahre der Vorbereitung, die Hoffnungen und Erwartungen: Alles umsonst.
Immer hatten Vater und Mutter etwas Besonderes in Kate sehen wollen, immer war sie zu Höchstleistungen angetrieben worden. Ihr Vater, der seine ungeliebte Beamtenlaufbahn als weit unter seinen Möglichkeiten empfunden hatte, wollte durch ihren Erfolg seine Träume erfüllt sehen. Und ihre Mutter wollte den Vater glücklich sehen. Daß die Familie daran zerbrach, bemerkten sie erst, als es zu spät war.
Kates Bruder hatte sich dem elterlichen Leistungsdruck am nachhaltigsten entzogen. Er war einer Sekte beigetreten und lebte irgendwo in Indien. Ihre Schwester zog seit Jahren mit einer Band durch die Gegend. Beide hatten den Kontakt zur Familie abgebrochen.
Kate telefonierte hie und da noch mit ihrer Mutter. Die Gespräche waren höflich, blieben aber an der Oberfläche. Seit damals war alles, was Kate getan hatte, von den Eltern mißbilligt worden. Sie hatte es deshalb längst aufgegeben, irgend etwas von sich zu erzählen.
Ihre Eltern hatten auch Bernd von Anfang an abgelehnt, waren nicht mal zur Hochzeit erschienen. Selbst für ihr einziges Enkelkind hatten sie sich nie interessiert. Kate überlegte kurz, ob sie überhaupt schon von der Scheidung wußten und was diese Neuigkeit bei ihnen auslösen würde. Bei der Vorstellung, ein säuerliches »wir haben’s dir ja gleich gesagt« zu kassieren, beschloß sie endgültig, den Wohnort der Eltern weiträumig zu umfahren.
Kurz vor Toulouse übermannte sie die Müdigkeit. Sie war über zwölf Stunden fast ununterbrochen gefahren; nur zum Tanken und Essen hatte sie kurze Pausen eingelegt. In einem schmucklosen Gasthof nahe des Zentrums nahm sie ein Zimmer.
Am nächsten Tag bummelte sie ziellos durch die Altstadt, vorbei am Capitol, an der Kirche Notre-Damedu-Taur und dem ehemaligen Augustinerkloster bis hinunter zum Fluß. Sie kannte das alles, sie war mit Bernd hier gewesen.
Wie lange lag diese letzte gemeinsame Reise zurück? Es mußte drei oder vier Jahre her sein.
Plötzlich stand sie vor einem kleinen, holzgetäfelten Café. Hier hatten sie damals gefrühstückt. Kate spähte durchs Fenster. Da hinten, an dem runden Tischchen mit den Thonet-Stühlen, hatten sie gesessen und ihre Brioches in den Milchkaffee getaucht. Mit einer blauweiß karierten Serviette hatte Kate einen Spritzer Kaffee vom glänzenden Einband ihres Reiseführers gewischt. Sie hatten die wichtigsten Kirchen und Museen besucht, die das Buch empfahl. Kate erinnerte sich an eine Reihe eigenartiger Blasinstrumente im Museum für asiatische Kunst, die den Gedanken in ihr hatten entstehen lassen, die Blockflöte sei möglicherweise doch in China erfunden worden.
Kate wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
Nein, sie wollte nicht daran denken, daß es mal jemanden in ihrem Leben gegeben hatte, von dem sie dachte, er gehöre zu ihr. Im nachhinein kam ihr alles wie ein lächerlicher Irrtum vor.
Bernd und sie hatten nie zusammengepaßt. Sie hatten nur eine Vorstellung des anderen geliebt, nicht den anderen selbst.
Franz fiel ihr ein. Sie hatte sich nicht mal von ihm verabschiedet und beschloß, ihm eine Karte zu schicken.
Sie bezahlte ihr Zimmer und setzte die Fahrt fort.
Am späten Nachmittag hatte sie ihr Ziel erreicht.
Das alte Pyrenäendorf schien unverändert; windschiefe Natursteinhäuser klammerten sich an die Hügel, dazwischen wuchsen knorrige Korkeichen, Ahornbäume und vereinzelte Schwarzkiefern. Kate suchte den Abzweig, der von der Hauptstraße steil nach oben zum Hof von Jacques führte.
Jacques war Holzhändler. Er war nicht irgendein Holzhändler, sondern unter Instrumentenbauern in ganz Europa der berühmteste. Auch Kate bezog seit Jahren ihr Holz von ihm. Er hatte den härtesten Buchsbaum, wunderbar hellen Ahorn für die Sopranflöten, eine bestimmte Sorte Pflaumenholz und das seltene schwarze Grenadille. Sie würde sich für die nächsten ein, zwei Jahre bei ihm eindecken, denn allmählich gingen ihre Vorräte zur Neige.
Die Zufahrtsstraße wurde immer enger und kurviger, mehrfach nahm Kate eine falsche Abfahrt und landete auf einem ihr unbekannten Hof. Komisch, früher hatten Schilder den Weg gewiesen – wo waren die abgeblieben?
Als sie um die nächste Biegung fuhr, lag der Hof vor ihr. Oder besser: das, was von ihm übrig war.
Fassungslos blickte Kate auf einen riesigen Haufen
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