Der Mann von Nebenan
sie ein paar Mark.
Wenn sie doch endlich wieder richtig arbeiten könnte! In Momenten wie diesem überlegte sie, Bernds Angebot anzunehmen. Aber gleich darauf verwarf sie den Gedanken wieder. Nein, nein, nein. Sie würde es allein schaffen!
Plötzlich zerriß ein Schrei die klare, kalte Winterluft, wütend und schmerzerfüllt.
Kates Körper überzog sich von oben bis unten mit einer Gänsehaut. Getrieben von einer schrecklichen Ahnung, rannte sie aus der Werkstatt, durch das Loch in der Hecke, quer durch den Garten von Malise.
Vor dem Haus der Mattuscheks war ein Menschenauflauf.
Gustav lag auf dem Boden, die Gliedmaßen merkwürdig verrenkt. Der Schnee rund um seinen Kopf färbte sich langsam rot.
Kate sah in das verzerrte Gesicht von Inge.
»Er hat ihn umgebracht!« brüllte sie und schüttelte die Faust Richtung Mattuschek, dessen Gesicht an einem Fenster im Obergeschoß auftauchte und schnell wieder verschwand.
Es war eine kurze Beerdigung.
Nach dem Trauergottesdienst zog eine kleine Gruppe dick vermummter Menschen zum Friedhof. Zwei Tage hatte man gearbeitet, um das Grab aus dem steinhart gefrorenen Boden auszuheben. Inge hatte darauf bestanden, daß trotz der widrigen Wetterverhältnisse das Begräbnis so bald wie möglich stattfinden sollte.
»Ich will nicht, daß er wochenlang in irgendeinem Kühlschrank liegt und dann auch noch durch die Gegend gefahren wird. Er soll endlich zu seiner Hilde kommen.«
Nachdem der erste Schock nachgelassen hatte, war Inges Sinn fürs Pragmatische mit einer Heftigkeit zurückgekehrt, die Kate erschreckte. Innerhalb von zwei Tagen hatte Inge das Begräbnis organisiert, die Traueranzeigen in Auftrag gegeben und alle nötigen Formalitäten erledigt. Kaum eine Woche nach seinem Tod hatte sie bereits sämtliche Sachen von Gustav aus dem Haus entfernt. Kate erschien Inges Aktionismus wie eine Flucht vor ihren Gefühlen.
Sie selbst war noch immer wie gelähmt. Der tote Gustav im Schnee, die umherstehenden Leute, die verzweifelte Inge – diese Bilder ließen sie nicht los.
Inzwischen hatte sie herausgefunden, was geschehen war.
Inge war durchs ganze Dorf gelaufen, hatte alle Orte abgesucht, wo Gustav sonst immer Station machte – ohne Erfolg. Schließlich war sie zu einer großen Baustelle am Ortsrand gekommen. Ein Hotel sollte dort entstehen; der Rohbau stand schon, und wo die Tiefgarage geplant war, klaffte eine zehn Meter tiefe Grube. Wegen des Wetters wurde zur Zeit dort nicht gearbeitet. Die Baustelle war vorschriftsmäßig von einem Bauzaun eingefaßt, lediglich an der Stelle, wo die Baumaschinen rein- und rausfuhren, war ein rot-weißes Plastikband angebracht. Inge bemerkte, daß das Band zerrissen war, und betrat die Baustelle. Suchend schritt sie das Gelände ab. Als sie die Baugrube erreichte, entdeckte sie den leblosen Körper ihres Vaters.
Anstatt Hilfe zu holen, machte sie sich selbst auf die Suche nach Seilen und einer Leiter. Sie zog ihren Vater heraus und schleppte ihn durchs ganze Dorf; eine Kraftanstrengung, die eigentlich außerhalb ihrer Möglichkeiten lag. Jeden, der es wagte, sie anzusprechen oder ihr Hilfe anzubieten, knurrte sie wütend an. Hilflos wanderten die Abgewiesenen hinter der verzweifelten Frau und ihrem toten Vater her, bis der makabre Trauerzug vor dem Haus von Mattuschek angekommen war.
Inges Meinung über das, was geschehen war, stand fest. »Nie hat Gustav die Hauptstraße überquert«, sagte sie immer wieder. »Hier, auf dieser Seite des Dorfes hat er sich ausgekannt. Diesmal ist er rüber, um Hilde zu suchen, und dabei ist es passiert.«
Als der Pfarrer beim Trauergottesdienst von einem »tragischen Unfall« sprach, lachte sie höhnisch auf.
»Umgebracht hat er ihn«, wiederholte sie laut genug, daß alle es hören konnten.
Mattuschek hatte es nicht gewagt, bei der Beerdigung zu erscheinen. Am Abend des Unglückstages hatten die Frauen beobachtet, wie er den vom Blut gefärbten Schnee vor seinem Haus wegschippte.
Nach der Beerdigung, als die vier Frauen sich bei Malise mit Tee und Cognac wärmten, fragte Inge plötzlich: »Wann?«
»Wann was?« fragte Malise sanft.
»Wann tun wir’s?«
Die vier wechselten Blicke. Schließlich landeten drei Augenpaare auf Rita.
»Ist in Ordnung, ich bin dabei«, sagte Rita schnell.
»Ich glaube nicht, daß du der Sache gewachsen bist«, sagte Malise.
»Ich? Warum denn nicht?« brauste Rita auf.
»Was wir vorhaben, ist was anderes, als ein paar Klunker aus einer Wohnung zu
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