Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
Lindenallee abführte, nur Fußgängern vorbehalten war, wollte Nullkück gerade einbiegen und mit dem Trecker direkt vor der Großen Kunstschau parken.
»Das geht nicht«, rief Paul und zog die Handbremse.
Sie stiegen vom Hanomag und liefen die restlichen hundert Meter zu Fuß. Es regnete wie aus Eimern.
Paul sah auf das Findorff-Denkmal seines Großvaters. Aus den eingedrehten Bronzelocken des Moorkommissars spritzte das Wasser kreisförmig.
Paul öffnete die Tür. Niemand saß am Eingang. Die Große Kunstschau war leer.
»Hallo?«, rief er.
Nullkück nahm ein Flugblatt, das an der Kasse lag und für eine Ausstellung mit afrikanischer Malerei im Rathaus warb, und rieb sich damit den Regen aus den Haaren.
Nach einer Weile rannte eine Frau durch die Halle. »Oh Gott, oh Gott«, brachte sie außer Atem hervor und nahm aufgelöst ihren Platz hinter der Kasse ein. »Was wollen Sie denn?«
»Zwei Tickets. Wir wollen in die Große Kunstschau«, erklärte Paul.
Nullkück lief schon wie ferngesteuert mit seinen Gummstiefeln durch die menschenleere Halle, er lief an den Heinrich-Vogelers vorbei, direkt auf das letzte Bild im hintersten Raum zu.
Marie stand aufrecht da. Im roten Kleid. Strohhut. Mittagssonnenhaar.
Nullkück atmete kaum, als er seine Mutter zum ersten Mal in Farbe sah.
Pauls Blick fiel auf den Moorgraben, in dem sich Marie leicht verzerrt spiegelte. Es war einer der typischen Moorgräben, die Mackensen und die anderen Worpsweder tausendmal gemalt hatten mit vom Wind aufgerissener Oberfläche und weißen Brechungen.
Doch was war das jetzt? Träumte er? In der Spiegelung hatte Marie eben langsam ihren Arm gehoben, ganz leicht ihre Hand mit dem Armreif, den ihr Johan bei einem Silberschmied gekauft hatte.
Paul rieb sich die Augen. Vielleicht war ihm beim Treckerfahren etwas hineingeraten, eine Fliege wäre möglich, überlegte er, vielleicht verschwamm dadurch alles?
Der Regen prasselte immer stärker auf die Kuppel, die sich über der kreisrunden Halle erhob.
Nullkück griff in seine Hosentasche. Er zog den Silberreif heraus, den er am Rande des Gartens bei dem großen Graben gefunden hatte. Er starrte auf das Bild. Er sah genau auf Maries Armreif am Handgelenk. Danach auf das Silberstück in seinen Händen. Dann rannte er mit dem Kopf gegen das Bild, so als wolle er in die Landschaft mit Marie hineinlaufen.
»Paß auf!«, schrie Paul. »Das ist eine Lein ...«, er konnte den Satz nicht zu Ende bringen.
Nullkück hatte sich blitzschnell umgedreht und schlug ihm den Silberarmreif mit voller Wucht gegen den Kopf.
Paul fiel auf den Boden. Er sah nur noch von unten, wie Nullkück mit ausgebreiteten Armen von beiden Seiten am goldenen Holzrahmen riss. Erst stemmte er den Rahmen hoch. Dann riss er zweimal, dreimal, bis das Bild mit Dübeln aus der Wand der Kunstschau brach.
In Pauls Kopf wurde es danach dunkel. Als er die Augen wieder aufschlug, glaubte er, die Kuppel der Kunstschau würde sich auf ihn zu bewegen. Zwei Mitarbeiter stürmten viel zu spät in den Ausstellungsraum und überwältigten ihn, obwohl er sowieso schon am Boden lag. In der Ferne hörte er den Trecker von Gerken starten, dann erst folgten die Sirenen. Der Sicherheitsalarm wurde vier oder fünf Minuten nach Nullkücks Entscheidung, die Mutter mit nach Hause zu nehmen, ausgelöst, auf jeden Fall mit erheblicher Verzögerung, was typisch für Worpswede war.
Eine halbe Stunde später saß Paul auf der Polizeistation in der Hembergstraße.
»Können Sie den oder die Täter beschreiben?«, fragte Kommissar Kück, der in keinem verwandschaftlichen Verhältnis zu Pauls Familie stand, sondern einfach nur so hieß, wie 290 weitere Traditionsfamilien im Moor von Alfred bis Zwantje Kück.
»Nein«, antwortete Paul. Er kam sich einen Moment vor wie der ewige Sohn seiner Mutter. Ein Mann, der gerade von einem, den er sehr wohl beschreiben konnte, niedergeschlagen worden war und danach wie immer verständnisvoll seine Wut vergrub.
»Keine Angaben?«, vergewisserte sich der Kommissar.
»Ich habe mich auf die Worpsweder Maler konzentriert, nicht auf den oder die Täter«, erklärte Paul.
»Hm. Als Sie am Kopf getroffen wurden, haben Sie da etwas gesehen?«
»Ich habe nur eine Faust gesehen. Das war alles. Warum haben die denn keine Überwachungskameras in der Kunstschau?«
Die Ereignisse hatten sich an diesem Tag überschlagen. Der Hausmeister der Großen Kunstschau hatte am Morgen entdeckt, dass die 22 Eichenbalken, die die
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