Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
Taschentücher, ich verstehe das nicht?«, fragte Paul verwundert.
»Wir haben hier in Ihrer Aussage protokolliert, dass der Täter gesagt hat, der Maler des gestohlenen Bildes sei ein Nationalsozialist gewesen. Stimmt das?«
»Aber er war doch Nazi, oder?«, fragte Paul.
»Sie können jetzt vorläufig gehen«, antwortete der Kommissar nach einer Pause.
Mutterverarbeitungen: Paul schluckt das letzte Telefonat, Nullkück baut einen Altar und sammelt Kraft
Den Weg zurück lief Paul zu Fuß. Wieder ging er durch die Marcusheide. Von irgendwoher ertönte eine Musik, die klang, als wären Russen in der Nähe, die Musik wurde immer schneller. Er dachte an seinen Onkel, von dem er das Buch über die Schneekönigin und den Jungen geschenkt bekommen hatte mit der Widmung: Frieren. Eis werden. Weinen. Auftauen. Fließen. In die Welt gehen. Er stellte sich vor, wie der Onkel hinter Gitterstäben in Lübeck saß und den Brief schrieb. Wie er mit dem Brief die Psychiatrie verließ und nach Hause in die alte Scheune zurückkehrte, in der ihm Marie das Lied zum Einschlafen gesungen hatte.
Hinterm Weyerberg scheint der Mond hervor / Und der Nebel steigt aus dem Teufelsmoor ...
»Hello«, sagte ein dünner Mann im weißen Hemd: wenig Haare, weiche, fast kindliche Gesichtszüge, aber tiefe dämonische Augen, die sich von einem Gameboy, aus dem Musik dröhnte, nur mit Mühe abwendeten und über einer randlosen Brille hervorstachen. »You are painter?«, fragte er, doch Paul war in Gedanken an das letzte Muttertelefonat versunken.
»Schwachsinn!« hatte sie gesagt, als er wie früher wissen wollte, ob Marie im Moor lag.
»Schwachsinn!« hatte sie gesagt, obwohl in dem Brief seines Onkels stand, dass Marie an den Rand des Gartens getragen worden war, dorthin, wo hinter dem großen Graben das Moor begann.
»Schwachsinn!« hatte sie wiederholt gesagt, nachdem er ihr auch noch berichtet hatte, dass Nullkück den Armreif von Marie genau bei dem großen Graben gefunden hatte.
Wie seine Mutter sich immer noch vor ihren Vater stellte. Wie sie jetzt sogar aus ihrem Vater hervortrat. Er dachte wieder an die Puppen, an die Schachtelpuppen. Familien waren wie ineinandergeschachtelte größere und kleinere Wesen aus Generationen. Er stellte sich vor: Die ganze Heide ist voll mit Müttern, die aus ihren Vätern steigen. Statt der hängenden Künstler an Birken wie früher jetzt ineinandergeschachtelte Generationen mit hervorsteigenden Müttern und Lügen und Verdrängungen.
»I need a picture from this woman!«, sagte der Mann und hielt Paul ein Foto entgegen. »Fifty percent must be ready and the other fifty percent are not ready«, dabei wurde seine Musik immer langsamer, sodass er auf seinen Gameboy sah und energisch darauf herumdrückte. »After two days seventy-five percent must be ready and twenty-five are not ready.«
»I am not a painter«, antwortete Paul, er hatte wirklich keine Ahnung, was das alles sollte.
»It's because I love a woman!«, erklärte der Mann.
»Ask the tourist Information«, sagte Paul und lief weiter.
Nullkück saß im Garten. Auf seinem Schoß lag ein Teller mit Buchweizenpfannkuchen. Maries Bild lehnte mit Goldrahmen am Bett. Er hatte den hellblauen Schirm so aufgestellt, dass die Mutter vor dem Nieselregen geschützt war. Daneben, auf der Bettdecke, befanden sich der Armreif und der Brief vom toten Onkel.
Vielleicht war es ja gut, eine Mutter zu haben, von der man kaum etwas wußte, die man gar nicht gekannt hatte, dachte Paul. Zumindest könnte man dann ohne Wut leben und ohne Herrschaft.
Nullkück stand auf, als er Paul kommen sah. Er hielt ihm einen frischen Buchweizenpfannkuchen mit Holunder hin, den größten, den es auf dem Teller gab.
»Alles in Ordnung«, sagte Paul und wusste, dass der Pfannkuchen die Entschuldigung war. »Du bist gut im Niederschlagen. Hast du das vorher geübt?«, sagte er und hielt den Armreif an seine Beule.
Nullkück zog unter der Decke einen Umschlag hervor und reichte ihn Paul. Er versuchte etwas zu sagen, stockte, öffnete den Mund und wartete auf die Worte. Es schien, als wartete er vor einem ganzen Zug mit Gedanken und Worten, aber die Türen öffneten sich nicht, und so ließ er es. Er schaute Paul nur sehnsüchtig an durch das stumme, dicke Glas, wie es manchmal Verliebte tun, die sich noch sehen, aber nichts mehr sagen können.
Die Fotos, die Paul nun in den Händen hielt, zeigten Johanna mit einem Mann im Garten. Man sah die Skulpturen des
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