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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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Glaskuppel über der großen Ausstellungshalle trugen, allesamt durchgefault waren. Die Kuppel senkte sich bereits. Der Hausmeister alarmierte die Mitarbeiter, man stieg in die Glaskuppel, und auch die Damen der Kasse und des Souvenirshops verfolgten die Schritte des Hausmeisters, der sich vorsichtig über die Eichenbalken tastete. Folglich hatte niemand die Kameras eingeschaltet, wie auch sonst niemand gesehen hatte, wie Nullkück aus der Kunstschau gelaufen war. Er hatte mit Marie sogar den offiziellen Ausgang genommen.
    Paul fühlte die Beule vom Armreif. Es war Maries Armreif, das war ihm noch kurz vor dem Schlag klar geworden. Man musste schon sehr naiv sein, um dies für etwas anderes zu halten, schließlich war Mackensen der detailversessenste Maler der Kolonie gewesen und hatte jeden Grashalm fein säuberlich der Wirklichkeit nach gemalt. Paul hörte die alten Sätze von früher wieder: Marie ist abgeholt worden ... - hatten alle gesagt. Eure Tante habt ihr im Moor vergraben und die Polizei hat sie gesucht ... - hatte Malte auf dem Schulhof gesagt. Und Bauer Gerken hatte schrecklich gelacht, als er seinen Gummistiefel in den Moorschlamm stieß.
    Kommissar Kück schnäuzte sich. Im Prinzip sah er so aus wie jene norddeutschen Männer, die sich auch ständig schnäuzten: runder Körper, rundes Gesicht, große blaue Augen, Stofftaschentuch, alles wie bei Brüning, Gerken oder Renken. Nur sprach Kück mehr, aber das lag an seinem Beruf, ein Kommissar, der ein Verhör führte, musste sprechen, auch wenn er aus dem Moor kam.
    »Fangen wir noch mal von hinten an. Haben Sie Schuhe gesehen, als Sie am Boden lagen?«
    »Schuhe?«, fragte Paul.
    »Ja.«
    »Nein, keine Schuhe.«
    »Der Täter hatte dreckige Schuhe. In der Kunstschau befindet sich Moor und Zementstaub von Ziegelsteinen wie an Ihren Schuhen. Das ist auffällig«, bemerkte der Kommissar.
    Paul überlegte, ob er einfach alles gestehen sollte. Die ganze Geschichte zu Protokoll geben: die schöne Marie, ihre versteckte, gefangen gehaltene Schwangerschaft. Sein Großvater, den das Begehren auf Abwege führte. Seine Großmutter, die ihr Leben lang eine andere Frau bekämpfte und, als die andere endlich weg war, den Kampf im Skulpturengarten weiterführte. Die alte Scheune mit den Seelen und den in Ton geformten Menschen, vor deren Verwandlung man sich in Acht nehmen musste. Hildes Kampf um Anerkennung und ihren Platz im Leben. Das geklaute, entrissene Kind und der Brief eines geisteskranken Onkels, der Marie zuletzt nach der Geburt tot im Garten gesehen hatte und sich später in Lübeck erhängte. Am Ende der silberne Armreif von Marie, den Nullkück beim Graben gefunden und mit dem er in der Kunstschau zugeschlagen hatte, weil er seine Mutter ungestört mit nach Hause nehmen wollte.
    Oder sollte er die Geschichte einfach abhaken als ein gruseliges Moorgespinst, überlegte Paul, eine Fantasie von Menschen, die zu viel vom Teufelsmoor abgekriegt hatten wie er?
    »Ich glaube, es war ein Täter mit grauen Haaren«, sagte er. »Der Mann hat vorher viel geredet. Dass er sich sehr gut mit Worpswede auskennt und darüber forscht. Dass er eben noch an allen Schauplätzen dieser Bilder war, also im Moor. Und dass Mackensen ein Nazi war.«
    »Nun fällt Ihnen ja doch etwas ein«, bemerkte der Kommissar. Er wurde von einem anderen Polizisten unterbrochen, der hereinkam und sagte, dass der Fahrer des Schweinetransporters endlich aus dem Koma erwacht sei und sich an einen Traktor mit Fernlicht erinnern könne, der ihm die Vorfahrt genommen habe.
    »Danke«, sagte Kommissar Kück. »Eins nach dem anderen. Ich kläre gerade einen Kunstraub auf.«
    »Was für ein Schweinetransporter?«, fragte Paul.
    »Herr Wendland, warum wollten Sie sich das gestohlene Bild ansehen?«
    »Warum? Ich habe mir Bilder von Paula Modersohn-Becker angesehen und von Heinrich Vogeler. Das Bild von Mackensen hing auch da, bevor es gestohlen wurde. Worauf wollen Sie denn hinaus?«
    »Hat der Täter sich auch andere Bilder angesehen?«, wollte der Kommissar wissen.
    »Weiß ich nicht. Ich habe Kopfschmerzen«, entgegnete Paul.
    »Sie sagen also, ein linksextremer oder ein rechtsextremer Hintergrund ist nicht auszuschließen«, stellte der Kommissar fest, dabei faltete er sein Stofftaschentuch zusammen - welches das absolut größte war, das Paul bisher gesehen hatte! - und stopfte es nach und nach in die Hosentasche der Uniform.
    »Sagen Sie, warum haben Sie eigentlich alle so riesengroße

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