Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
ungewöhnlich hohe Stirn und tiefe Falten um den Mund.
»Sieh mal, diese Ecken in den Haaren!«, sagte Paul und erinnerte sich, dass er seinem Großvater beim Modellieren von Willy Brandt zugesehen und ihn irgendwann auf etwas Ungewöhnliches hingewiesen hatte: Oberhalb des Kopfes ragte ein Haaransatz wie eine Landzunge in die Stirn und an den Rändern entstanden diese ungewöhnlichen Ecken.
Rilke sieht aus wie eine dünne Ziege, dachte Paul.
Albert Einstein, »das Genie«, hatte zwar eine komplizierte Theorie erfunden, aber dafür eine schöne Clownsnase und fliegende Haare, die im Vergleich zu Rembrandt akkurat gestaltet waren.
Heinz Rühmann zog schelmisch die Augenbrauen hoch und wirkte wie ein großes Kind. Der bronzene Zylinder saß schief auf seinem Kopf, so als wolle er nie erwachsen werden.
Der Rote Franz war äußerst dünn und nackt, man erkannte eigentlich alles: Kopf, Nase, Lippenbart, Rumpf, sogar die 1700 Jahre alten Schamhaare hatte der Großvater in Bronze gießen lassen, weil der Rote Franz angeblich mit gut erhaltenen, roten Schamhaaren im Moor entdeckt worden war.
Nietzsche sah aus wie ein Irrer. Länglicher Kopf, der mit einer seltsamen Haartolle abschloss, Augenbrauen wie Büsche und ein Bart von einem Walross, nur die Eckzähne fehlten. Auf seinem Sockel stand: »Gott ist tot«. Es war aber völlig unklar, was der Großvater mit Nietzsche zu tun gehabt hatte, er hatte sich weder für Nihilismus interessiert noch war Nietzsche Norddeutscher gewesen. Wahrscheinlich musste man als Künstler Nietzsche im Garten stehen haben oder sein Großvater hatte noch einen großen Philosophen gebraucht, sonst war ja alles vorhanden: Politik, Sport, Kirche, Kunst, Naturwissenschaften, Schauspiel, Literatur, Archäologie, mit Musik allerdings hatte er nichts anfangen können, Beethoven, Bach oder Richard Wagner waren nicht berücksichtigt worden. Nur Ringo Starr, »der große Popstar«, stand noch im Garten, den hatte er seiner Tochter zum Geburtstag gegossen: in die Stirn fallende Haare (Pilzkopffrisur), große, spitze Nase, geschwungener Mund, aber männlicher als beim Schlachtenlenker. Er trug eine Art Burberry-Mantel mit Krawatte und war mit Heinz Rühmann die charmanteste Erscheinung im Garten. Pauls Großvater hatte es damals tief beeindruckt, als ihm seine Tochter erzählte, dass Ringo Starr vor den Frauen in England durch Kanalsysteme flüchten musste.
Sie standen jetzt vor Pauls Großmutter. Sie wurde mit einem angedeuteten Blech Butterkuchen dargestellt, außerdem mit einem viel zu ernsten Ausdruck, wie Paul empfand.
»Meine Großmutter sieht aus wie Margret Thatcher mit einem Kuchentablett in der Hand. Findest du nicht? Wie diese Eiserne Lady aus England! Dabei ist das meine Oma, ich hätte sie sanfter und lächelnd dargestellt«, sagte Paul, es war ja die einzige Skulptur im Garten, die er wirklich beurteilen konnte.
Seine Großmutter gehörte zusammen mit Nullkück zu den Personen aus den Menschentagen, die sich von Personen aus den Schöpfertagen dadurch unterschieden, dass sie jemandem zulächeln konnten, die Schöpfer lächelten nicht.
»Sieh mal, sogar der Bismarck schaut freundlicher. Vielleicht ist es aber auch am schwierigsten, seine eigene Frau zu erkennen.«
Nullkück nickte zustimmend mit dem Kopf, während sich Paul seine Großeltern als Liebespaar vorzustellen versuchte. Berührungen, Umarmungen oder gar Küsse konnte er keine erinnern, solche Zärtlichkeitsbilder hatte er nicht einmal von seinen Eltern. Er war als Kind irgendwie da gewesen, aber alle Zeichen, warum er denn eigentlich auf die Welt gekommen war, die waren verschwunden.
»Da ist die glühende Frau!«, rief Paul, als er die Marie-Skulptur entdeckte. Früher hatte sie abseits des Gartens gestanden am Rande, doch nun war sie mitten unter den großen Männern und immer noch das eindeutig Schönste im ganzen Garten.
Im wirklichen Leben war Marie ein paar Monate vor Ende des Krieges von der Gestapo abgeholt worden, erzählten die Leute, nachdem ihr Mann an die Front gezogen war und sie im Dorf die Nazis beschimpft und dem Gauleiter ihre beiden Mutterkreuze zurückgegeben hatte, das silberne, hieß es, habe sie ihm sogar auf den Kopf geschlagen.
»Marie war eine glühende Frau«, flüsterte der Großvater, wenn Paul ihn durch den Garten zur Marie-Skulptur begleitete, um wie jedes Jahr Blumen zum Geburtstag zu bringen.
»Die einzige Kommunistin in unserer Familie«, sagte er und legte die Rosen an den Sockel. Marie
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