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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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er eigenhändig gebaut, bei dem er sich aber entweder beim Zusägen verrechnet hatte oder in einen Größenwahn verfallen war, am Ende hätten alle Kücks der Welt ihre Kleider dort hineinhängen können.
    Es gab eine Zeit, da lebten in diesem Haus lauter Kücks mit ovalen Gesichtern, großen Ohren, Sommersprossen, blauen Augen und blonden Schöpfen. Im östlichen, mehr im Urzustand belassenen Flügel des Hauses, in der großen Diele, wohnten die beiden Brüder von Paul Kück, er hatte sie mit in sein Haus aufgenommen. Sie hießen Johan und Hinrich Kück und besaßen jeder fünf Kühe, die auch in der Diele wohnten und die sie mitgebracht hatten aus dem benachbarten Tarmstedter Moor, aus dem die Kücks stammten. Von den Brüdern war Paul Kück der Einzige, der nicht in den Krieg musste, er galt als »uk«, als »unabkömmlich« und »unersetzlicher Künstler«. Seine Frau Greta kam ebenfalls aus dem Moor, genau wie die Brüder und Hilde, die Frau von Hinrich. Nur die schöne Marie war Worpswederin. Johan hatte sie 1934 auf dem Erntedankfest hinter der Zionskirche kennengelernt.
    Insgesamt brachten es die Kückbrüder mit ihren Frauen im Teufelsmoor auf dreizehn Kinder, alles Jungs, bis auf Johanna, doch Hilde, die so lange Unfruchtbare, verzweifelte. Um sie herum purzelten die Kinder auf die Welt, heimsten die anderen Kückfrauen Mutterkreuze ein, nur sie empfing nichts - bis sie sich aus Wut und Verbitterung eine Brust zerschnitt.
     
    »Ich hatte ganz vergessen, wer hier alles herumsteht!«, sagte Paul, während Nullkück ihn wie einen Gast durch den Garten führte, so wie es der Großvater früher tat, wenn Besucher kamen und den ruhmreichen Menschengarten zu durchlaufen hatten.
    Sie standen gerade vor Luther, dem »großen Reformator«, wie es der Großvater dem Enkel schon als Kind erklärt hatte. Der große Reformator lief ganz besonders Gefahr, im Moor zu versinken, da es das künstlerische Ziel des Großvaters gewesen war, nicht nur die Seele und die Geheimnisse in der Bronze zu erfassen, sondern auch das Gewicht und die genauen Körpermaße. Luther war ein Koloss, bestimmt über 100 Kilo schwer, ein Bronzeberg mit flacher Mütze auf dem Kopf und einem zufriedenen Gesicht.
    Gegenüber von Luther, auf der anderen Seite der alten Eiche: Rembrandt, 95 Kilo, mit großem, schräg modelliertem Hut und wildem Haar, einer der »berühmtesten Maler«, den auch die alten Worpsweder schätzten, Paul dachte als Kind, das sei Robin Hood.
    Nullkück führte ihn zu Napoleon Bonaparte, dem »großen Schlachtenlenker«, wie ihn der Großvater genannt hatte, nur 1 Meter 66 Körperlänge, aber 90 Kilo schwer aufgrund der französischen Küche. Geschwungener, anmutiger, fast weiblicher Mund, die Nase fein gebildet, die Augen milde ohne Trotz. Wie hatten in einem Kopf voll Ebenmaß all diese Kriege und Schlachten sein können?, dachte Paul und schritt mit Nullkück weiter den Garten ab.
    Max Schmeling, »der große Meister«, der Schwergewichtsboxer, der den »braunen Bomber« aus Amerika k.o. geschlagen hatte: 90 Kilo, 1,85, mächtige Augenbrauen, mit ausgestrecktem linken Schlagarm und entschlossenem Gesichtsausdruck.
    Sie liefen jetzt einmal um Otto von Bismarck herum, den »großen Preußen«, ebenfalls 90 Kilo, stolze 1,90, ein deutscher Riese im Moor mit Pickelhaube und Generalsuniform nach der Ehrenbeförderung.
    Daneben stand Rodin mit gerolltem »R«, »mein Kollege, meine andere Hälfte«, wie Pauls Großvater immer gesagt hatte, 85 Kilo, langer Mantel, gottähnlicher Bart, die Menschen und Dinge prüfender Blick. Wenn der Großvater früher vor seiner Rodin-Skulptur stand und die Besucher im Garten auch über ihn, über Paul Kück, den Rodin des Nordens sprachen, dann war er sogar kurz davor, die Reinkarnationslehre seiner Tochter zu vertreten.
    Danach folgten Heinrich Schliemann, der Troja und den Schatz des Priamos ausgegraben hatte, und Thomas Mann aus Lübeck, aus dessen Feder die berühmten »Buddenbrooks« stammten und bei dem Pauls Großvater auch gerne einen Bericht über die Kücks in Auftrag gegeben hätte. Schliemann und Mann sahen sich zum Verwechseln ähnlich mit ihrer hohen Stirn, dem glatt nach hinten gestrichenen Haar, dem Schnauzbart und der angedeuteten Fliege am Hemdkragen: beide 75 Kilo.
    Willy Brandt, Rilke, Heinz Rühmann, Pauls Großmutter, Albert Einstein, der wahnsinnige Nietzsche und die rote Moorleiche waren die Leichtesten.
    Willy Brandt, »der große Sozialdemokrat«, hatte eine

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