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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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zuhörte. Sie fuhren auch zusammen Trecker. Nullkück war in der Lage, mit dem Hanomag R16 vom benachbarten Bauern Gerken Heu zu wenden, zu düngen, Steckrüben einzufahren und dabei die jungen Bäuerinnen auf den Feldern verrückt zu machen, indem er über die Wiesen hinweg auf sie zuraste, um aus voller Fahrt seine Liebesbriefe abzuwerfen.
     
    Liebe Berta.
    Ich beobachte Dich schon lange aus der Ferne auf dem Kartoffelacker. Dein Haar flattert im Wind wie ein gold'ner Seidenmantel. Leider habe ich keine Zeit anzuhalten, denn der Winter naht und ich muss über die Felderjagen.
     
    Nullkück, 1968
     
    Nullkück stellte solche Briefe bis weit in die Siebzigerjahre mit dem Trecker zu - viele Briefe, auf verschiedenen Feldern, für fast alle Bäuerinnen und immer gezeichnet mit »Nullkück«. Als Kind konnte sich Paul gut in die Lage der betroffenen Bäuerinnen versetzen. Er fand »Nullkück« für Liebesbriefe überhaupt nicht geeignet und suchte eine Zeit lang selbst nach einem anderen Namen, nur hatte sich die Familie und die Bauernschaft längst daran gewöhnt, und auch Nullkück wollte sich nicht mehr anders nennen, es war eben so drin.
    Lesen und Schreiben hatte er auf der Sonderschule gelernt, da war er damals der Beste. Er schrieb gerne und wenn er sich verschrieb, nahm er Radierwasser, »Tintentod« von Pelikan, das ihm Hilde jedes Jahr zum Geburtstag schenkte. Nur wenn er sprechen wollte, wurde er langsam. Meist waren es nur ein oder zwei Worte, die er auf die Schnelle bilden konnte, obwohl ganze Sätze und lange Reden in seinem Geiste vor ihm standen.
    Vielleicht war das der Grund, warum das Haus auf dem Teufelsmoordamm eines der ersten war, in das die Telekom ein Modem installiert hatte. Seitdem mailte Nullkück den ganzen Tag, aber vermutlich nicht mehr Berta und den anderen, denn die Bäuerinnen ringsum, denen er früher Liebesbriefe bei der Feldarbeit vom Trecker zuwarf - sie waren alt, tot oder hatten kein Internet.
    Nullkück lebte als Letzter der Kücks in dem riesigen Haus. Pauls Mutter hatte sich stets vorgestellt, das Anwesen der Künstlerkolonie als Heimatmuseum, als Atelierhaus anzubieten oder das Ganze erst einmal gut zu vermieten, aber es schien alle Interessenten abzuschrecken, wenn man ihnen mitteilte, dass ein leicht geistesgestörter Mann namens »Nullkück« im hinteren Bereich des Hauses sein Zimmer behalten müsse.
    Pauls Mutter hatte es nie übers Herz gebracht, ihn in ein Heim abzuschieben. Vielleicht lag es daran, dass sie dadurch nicht einmal ihr Gewissen hätte beruhigen können, denn Nullkück brauchte keine Hilfe, er war in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Er machte sich jeden Tag dreimal Buchweizenpfannkuchen und das Behindertengeld reichte. Einen Teil davon bekam Paul, das hatte seine Mutter so geregelt, da es ihr Erbe war und Nullkück völlig mietfrei wohnte. Dafür leistete er kleine Reparaturarbeiten, hielt die Zimmer instand und wischte Staub. Er entfernte das wuchernde Moos, das sich an den Außenwänden ausbreitete, und beobachtete die Gipsmarken, um die Absenkung des Hauses zu kontrollieren und der Erbin die Zwischenstände nach Lanzarote zu übermitteln. Im Garten verrichtete er Laubarbeiten, mähte Gras mit der Sense, bekämpfte die Maulwurfshügel und kümmerte sich um die großen Bronzeskulpturen von Paul Kück.
    Nullkück war also eine Art Hausmeister und Hausbesetzer in einem. Er sah nach dem Rechten, aber er besetzte auch das große Haus mit seinem freundlichen »Torfkopp« und seinen Buchweizenpfannkuchen, sodass die Erbin und ihr Sohn warten mussten, bis es Nullkück eines Tages nicht mehr geben würde.
    Die fünf Brüder von Pauls Mutter konnten oder mochten keine Erbansprüche geltend machen. Sie waren entweder tot oder verrückt geworden oder wollten nie mehr etwas mit dem Haus zu tun haben. Einer der Brüder, der in Lübeck in der Irrenanstalt lebte, hatte sogar schriftlich dem Erbe widersprochen, gerade so, als würde ein Fluch auf dem Haus liegen.
    Früher hatte Johanna Kück mit ihren Eltern und Brüdern den westlichen Flügel des Hauses bewohnt, der eindeutig der Schönste war, mit einer großen Diele, aus der man in die Weite der Moorwiesen blicken konnte - so weit, bis die Kühe in den Himmel liefen. Von der Diele aus, in der gegessen wurde, gelangte man ins Wohnzimmer mit dem Kachelofen, den Paul Kück durch die Wand hatte bauen lassen und der auch die Diele mitheizte. Im Wohnzimmer stand der gigantische Kleiderschrank aus schwerer Eiche, den

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