Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
war die einzige seiner Frauen, die auf einem Sockel stand.
»Eine Kommunistin«, wiederholte Paul mit Schwierigkeiten ab der zweiten Silbe und nahm die Milchkanne, die Renken, der Bauer von nebenan, tagtäglich neben Marie stellte.
»Ich musste sie in Bronze gießen, damit sie nicht verbrennt. Wenn du in was hineingerätst, aus dem du nicht wieder herauskommst, kann dich auch die Liebe umbringen«, fügte der Großvater leise hinzu und stellte seine Lieblingsfrage: »Warum sind meine Kunstwerke innen hohl?«
»Damit die Seele und die Geheimnisse und die Stärken und Fehler der Menschen Platz haben.«
Paul hatte die Frage schon oft beantwortet und wiederholte auch nur die Worte seines Großvaters, der von seinen Kunstwerken sprach wie von richtigen Menschen, die er alle kannte. Den großen Reformator, den großen Schlachtenlenker, den großen Preußen usw. hatte er natürlich nie persönlich getroffen, aber er kannte sie auf seine eigene Weise. Ganz besonders den großen Rodin, der er ja quasi selbst war. Und Willy Brandt, »den großen Kanzler«, der ihm 1973 einen Besuch abstattete und auch zu Kaffee und Kuchen blieb.
Pauls Großvater lief gerne durch den Garten, umkreiste seine Skulpturenmenschen und hielt sie an der Schulter oder grüßte im Vorbeigehen. Er lebte mit ihnen allen, mit ihren Seelen, die in den Hohlräumen der Bronze aufgehoben waren, mit ihren Fehlern und Geheimnissen, ihn interessierten überhaupt nur Menschen mit Geheimnissen und Fehlern, ohne die es die großen Taten, wie er glaubte, nie gegeben hätte.
Paul bemerkte, wie sein Großvater manchmal zu Marie hinübersah, wenn er mit der Familie im Garten saß. Er wirkte dann abwesend, still. Und seine Augen waren sanft, nicht wie sonst, prüfend, unruhig, sein Gegenüber durchbohrend. Wenn er zu Marie hinübersah, öffneten sich die Augen wie Flügeltüren. Paul stellte sich vor, wie er hineingehen und hinter den Augen des Großvaters weiterlaufen könnte in ein gelebtes, langes, großes Leben, in dem es glühende Frauen gab, Kommunistinnen, Geheimnisse, Dichterfrauen mit berühmten Töpfen, Kaffeebarone, am Ende sogar Präsidenten, die dem Großvater im Garten einen Besuch abstatteten und vom Butterkuchen aßen.
Greta mochte die Marie-Skulptur nicht. Sie hasste sie. Marie müsse weiter weg, zischte sie, weg aus dem Garten. Auf keinen Fall durfte sie in ihrer Nähe oder im Umfeld der großen Persönlichkeiten stehen.
»Was soll sie denn da jetzt neben Luther?«, fragte sie, als ihr Mann die Marie-Skulptur zwar weg von ihr und Rilke, aber in die Nähe des großen Reformators umgesetzt hatte.
»Stell sie doch neben deine Moorleiche! Was hat dieses Bauernweib mit Luther oder Heinrich Schliemann zu tun? Ich will sie da nicht sehen!«
Pauls Großvater musste Marie insgesamt viermal im Garten umsetzen, bis seine Frau ihn endlich in Ruhe ließ. Am Ende stand Marie am Rande des Gartens und Greta zwischen ihrem Blätterfall-Rilke und Heinz Rühmann, ihrem Helden aus der »Feuerzangenbowle«.
Warum der Großvater Marie einen Sockel gegeben hatte und seiner Frau keinen, wusste Paul nicht.
»Sag mal, und diese ganzen Seile? Das hast du dir ausgedacht?«, fragte Paul.
Nullkück nickte und es schien, als beobachtete er die erstaunten Blicke des anderen.
Durch den gesamten Garten waren Seile gespannt, die von den Skulpturen zur alten Eiche führten und verhindern sollten, dass die großen Männer im Garten versanken. Früher hatte Nullkück ihnen noch mithilfe der Bauern Pflasterplatten unterlegt, die aber mit der Zeit in das Moor getrieben waren, sodass er dazu übergegangen war, die Skulpturen durch Schiffsseile zu sichern.
Er hatte zum Beispiel Luther ein Seil um den Bauch gebunden, das andere Ende um die im Garten stehende alte Eiche geführt und am oberen Baumstamm befestigt. Als sich die alte Eiche mit der Zeit leicht in Richtung der schweren Luther-Skulptur neigte, versetzte er mit einigem Aufwand andere Skulpturen um die Eiche herum, sodass daraufhin die Rembrandt-Skulptur die Neigung der Eiche durch Luther korrigierte und sie in ihre Richtung zog. Zog Napoleon den Stamm in eine wiederum andere Richtung, korrigierte der gegenüberstehende Max Schmeling die Eiche in die Gegenrichtung. Dasselbe Prinzip wendete er auch bei Pauls Großmutter und Marie an, die er gegen den Willen der verstorbenen Großmutter vom Rand in die Mitte des Gartens versetzte, aber es ging nicht anders. Die beiden Frauen mussten nun zusammenhalten. Sie waren
Weitere Kostenlose Bücher