Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
Nullkück nennen? Nullkück ist der wahnsinnigste und unmenschlichste Name von allen!«, fand Christina.
Paul zog sie nach links in den »Sumpf- und Wasserpflanzengarten« mit Moor-Anlagen, mit Feuchtwiese und Röhricht.
»Rate mal, wie viele Kühe es in Worpswede gab?«, fragte er, Christina sah ihn irritiert an.
»Also, im Jahre 1968 waren es 40.000 Kühe und nur 8.000 Einwohner, da hatte umgerechnet jeder durchschnittlich fünf Kühe«, erklärte Paul. »Und darum konnte auch nie jemand in die Ferien fahren. Nur die Künstler konnten Ferien machen, die hatten in der Regel keine Kühe.«
Später gaben zwar viele Bauern die Kühe und das Bauerntum auf und ergriffen andere Berufe, aber trotzdem fuhren sie nie in die Ferien, so als hätten sie noch innere Kühe. Das war die eine Hälfte der Worpsweder, erinnerte sich Paul: Sie hatte richtige oder innere Kühe und verließ nie den Ort. Die andere Hälfte bestand aus zugezogenen Künstlern, Revolutionären und ein paar reichen Hanseaten aus Bremen, die das Dorf für ihre Sommerfrische erkoren.
»Christina, du kannst dir nicht vorstellen, was das in Worpswede für eine Mischung war«, sagte Paul. »50 Prozent Künstler, Irre und Hanseaten. 50 Prozent Bauern mit Kühen und Menschen mit inneren Kühen!«
»Was sind denn innere Kühe?«, fragte sie.
»Innere Kühe sind schwere Seelen, die niemals das Moor verlassen können«, antwortete er.
»Sag mal, steht da hinten nicht Malte Jahn und guckt herüber?«, fragte Paul erschrocken. »Das ist doch Malte!«
Nullkück nickte und überprüfte noch einmal das Seil von Luther, beim großen Reformator musste er jeden Tag die Spannung des Seils überprüfen.
Es war tatsächlich Malte, dachte Paul und sah nun ebenfalls zum Nachbarn hinüber.
Malte war sein Kindheitsfeind und der Enkel von Emil Jahn, einem Bildhauer, der ebenfalls Menschenskulpturen erschaffen und den Pauls Großvater abfällig einen »Kunsthandwerker« genannt hatte. 1940 war es zwischen den beiden auf dem Damm zu Handgreiflichkeiten gekommen, weil Jahn in Höhe seiner Einfahrt ein großes Schild aufgestellt hatte mit der Aufschrift: »Der Bildhauer«. Natürlich gab es nach Ansicht von Paul Kück nur einen Bildhauer in Worpswede, der auf sein Schild »Der Bildhauer« schreiben durfte, und das war eindeutig er, der auf der »Großen Deutschen Kunstausstellung« 1939 in München zusammen mit führenden Bildhauern wie Georg Kolbe, Bernhard Bleeker, Josef Thorak oder Fritz Klimsch ausgestellt hatte!
Emil Jahn war zwei Jahre früher als Paul Kück in sein Moorhaus gezogen, hatte einiges investiert und das Haus neu gründen lassen, damit es nicht absinken konnte. Doch dann begann er unter dem Ruhm seines neuen Nachbarn zu leiden, denn auch Jahn modellierte Gestalten der Geschichte. Auch von ihm gab es einen opulenten Moorkommissar. Ebenso goss er Rilke, Nietzsche, Rembrandt in Bronze, und in seinem Garten standen Konrad Adenauer, Ludwig Erhard, sogar Heinrich Lübke, der bei einem Afrikabesuch »Meine Damen und Herren, liebe Neger« gesagt haben sollte, da fasste sich sogar Nullkück an den Kopf.
Modellierte Kück vor allem Sozialdemokraten - Bebel, Brandt, auch Philipp Scheidemann -, so spezialisierte sich Jahn auf die Christdemokraten und die Liberalen, gleich an der Einfahrt stand immer noch Theodor Heuss. Die ganze Geschichte der Republik bildete sich auf dem Teufelsmoordamm ab, dank des Zutuns von Emil Jahn, allerdings ohne dabei solche Erfolge vorweisen zu können wie sein Nachbar.
Die Sache mit dem Schild schien ein verzweifelter Versuch, sich Kundschaft zuzuführen. Wenn man von der Überhammer Landstraße das Haus und Atelier von Paul Kück erreichen wollte, kam man unweigerlich als Erstes an der Zufahrt von Emil Jahn vorbei. Ludwig Roselius zum Beispiel, der Erfinder des koffeinfreien Kaffee-HAG und Erbauer der weltbekannten Bremer Böttcherstraße, er bog 1940 zuerst in die falsche Zufahrt ein, als er das Schild »Der Bildhauer« sah. Paul Kück konnte gerade noch verhindern, dass Roselius seine Bronzeskulptur beim Falschen in Auftrag gab.
»Wer is denn al Emil Jahn?«, rief er von der Einfahrt seinem Nachbarn zu.
»Kück, nehm di in Acht!«, schrie Jahn zurück, »du hest wat to verbargen!« Manchmal schickte er auf Hochdeutsch hinterher: »Du hast Dreck am Stecken! Eines Tages wird man sehen, wer Paul Kück wirklich ist!«, dabei zeigte er mit dem Finger auf die Scheune.
Die alte Scheune stand gegenüber von Nullkücks Zimmer und dem
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