Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
Vom Netzwerk:
ihr alles erzählt.«
    Er lockerte den Knoten seiner Krawatte, die er bewusst für die Reise in die Heimat trug. Es war seine einzige Krawatte, eine dunkelblaue, die er nicht mehr binden musste, weil er sie seit der Beerdigung seiner Großmutter, der anderen, der Wendland-Großmutter, so belassen hatte. Er lockerte den Knoten, als schnürte ihm das neue Leben von Christina - oder sein altes in der Heimat - langsam die Luft ab.
     

Wie erklärt man die ganzen Kücks und die inneren Kühe?
    Er dachte daran, wie er Christina im Botanischen Garten seine Familienverhältnisse zu erläutern versucht hatte: die Brüder seines Großvaters, die irren Namen der Krück-Kinder. Eins hieß Hinrich Paul Johan, das nächste Paul Johan Hinrich, man benannte die Söhne nämlich nach den Kückbrüdern. Und um sie angeblich besser unterscheiden zu können, bekam jeder drei Namen: Paul Hinrich Johan oder Johan Paul Hinrich. Einfach war auch noch Hinrich Johan Paul. Sonderbar wurde es aber ab den Kückkindern sieben bis zwölf. Eins zum Beispiel hieß »Paul Hinrich Hinrich«, was man immer noch besser fand als Kück 7, Kück 8 oder Kück 9.
    »Ich kann mir gar nicht vorstellen, was bei den Kücks los war, wenn die alle Kinder zusammenriefen«, sagte Christina, nachdem sie ihm vorgerechnet hatte, dass es bei dem ganzen Hinrich-Hinrich-Paul-Johan-Chaos wahrscheinlich einfacher sei, sich alle Pflanzen im Botanischen Garten zu merken.
    Als Kind hatte sich Paul die Kücks immer wie Matroschka-Puppen vorgestellt: Stundenlang konnte er dasitzen und diese russischen Puppen aus Lindenholz entschachteln. In einer großen Puppe steckte eine kleinere, in dieser dann wiederum eine etwas kleinere Puppe usw., Paul schachtelte und schachtelte und dachte, so würde das auch ewig mit den ganzen Kücks weitergehen. Den dicksten Puppen gab er die Namen Paul, Hinrich und Johan, dann wurde losgeschachtelt. In einer Schachtel Paul Hinrich Johan, in der nächsten Paul Johan Hinrich, danach Hinrich Paul Johan, irgendwann kam seine Mutter aus einer Schachtel, dann er selbst, nur bei Nullkück war er sich unsicher, aus welcher Puppe er ihn herausschachteln sollte.
    Paul schlug vor, der Hauptachse im Garten zu folgen und gegenüber vom »Deutschen Wald« in den »Sumpf- und Wasserpflanzengarten« einzubiegen.
    »Mensch, so viele Kücks«, fasste Christina zusammen.
    »Meine Oma wollte immer das goldene Mutterkreuz, das sind acht Kinder. Eins aus Silber hatte sie schon«, erklärte Paul.
    »Eure Familien bekamen Medaillen für Kinder?«, wollte Christina wissen.
    »Kreuze, ja, das klingt nicht schön«, antwortete er.
    »Das klingt grausam, wenn ich daran denke, was es für die Kinder in der Familie meines Großvaters gab«, bemerkte sie.
    Paul schämte sich für seine Unbedachtheit. Durfte er überhaupt von seiner deutschen Familie erzählen, wenn er mit einer Frau zusammen war, deren Großvater als einer der wenigen aus seiner jüdischen Familie nach Barcelona hatte fliehen können?
    »Man muss aber wieder sechs Kückkinder abziehen«, sagte Paul, fast so, als wolle er die Mutterkreuze zurücknehmen. »Als Johan im Krieg fiel und seine Frau Marie auch umkam, gab Tante Hilde die Kinder in ein Heim.«
    »Aber Tante Hilde hatte doch keine Kinder. Warum hat sie nicht die Kinder von Marie genommen?«, fragte Christina.
    »Sie hat sie ja auch zuerst genommen, aber dann kam ihr eigener Mann nicht mehr aus dem Krieg zurück. Wie hätte denn mein Großvater alleine dreizehn Kinder und zwei Frauen durchfüttern sollen? Meine Urgroßmutter aus Tarmstedt saß da auch noch herum!«, rechtfertigte Paul seine Familie.
    Wie dieser Familienton aus ihm hervortrat, dachte er.Wie er in genau jenen Verteidigungston verfiel, den er früher von seiner Großmutter oder Mutter kannte, wenn er auf die Marie-Geschichte zu sprechen kam. Er wollte Christina erzählen, dass Marie nicht einfach so umgekommen, sondern von Gestapo-Leuten abgeholt worden war, was ihm jedoch wie eine weitere, seltsame Verteidigung vorkam, so als müsste er das Leid seiner Familie gegen das Leid ihrer Familie setzen.
    »Weißt du, wie mein jüngster Onkel heißt, der jetzt in einer Psychiatrischen Anstalt in Lübeck lebt?«, fragte er stattdessen.
    »Keine Ahnung. Auf jeden Fall Kück«, Christina schien immer noch an die Mariekinder und die Mutterkreuze zu denken.
    »Paul Hinrich Hinrich Kück, genannt PHH! Da kann man ja nur in die Klapsmühle kommen!«, sagte er. »Aber wie kann man denn einen Menschen

Weitere Kostenlose Bücher