Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
von Touristen aus Cloppenburg und band es in der Marcusheide an eine Birke. Er spürte Hass auf das dicke Kind, das mit seinen Eltern nach Worpswede gekommen war, um dort Kuchen zu essen und sich zu erholen, anstatt Skulpturen oder Hasenmenschen von seiner Familie zu kaufen. Er riss hinter der Birke an der Schnur, bis sich der Bauch des Kindes in zwei fette Hälften teilte. Am Ende musste es ein Schild hochhalten: »Gefangener Tourist«. Paul holte von zu Hause einen Topf und setzte ihn dem Kind auf den Kopf, vielleicht war es sogar der Rainer-Maria-Rilke-Topf.
»Eine Künstlerkolonie ist eine besondere Form des Zusammenlebens von Künstlern«, hörte Paul eine Frau mit lauter Stimme sagen, er war schon auf der Flucht vor der Oldenburger Gruppe im runden Hauptraum angekommen und stand neben einer Schulklasse mit ihrer Lehrerin.
»Von der Nähe zur Natur erhofft sich der Künstler die nötige Inspiration. Besonders das Moor war für die alten Worpsweder so wichtig wie für die Griechen und Römer der Marmor«, aber ihre Klasse schien das nicht sonderlich zu interessieren. Die Jungen schubsten sich, die Mädchen fuhrwerkten in ihren Haaren, tippten auf den Handys herum und ließen Kaugummis vor ihren rot bemalten Lippen knallen.
»Wer war Fritz Mackensen, Philipp?«, rief die Frau ganz laut, um sich Gehör zu verschaffen. »Keine Ahnung, Frau Lessmann«, sagte der Junge. »Judith, weißt du es?«
»Ein Künstler, was denn sonst?«, sagte die Schülerin.
»Richtig. Ein Maler! Mit wem verglichen?«
»Michael Schumacher«, rief ein Junge und alle lachten.
»So ein Unsinn. Mit Rembrandt! Und wann gestorben?«, fragte Frau Lessmann.
»1953«, antwortete Paul. »Mein Großvater war sogar dabei.«
Es stimmte wirklich. Paul Kück hatte das oft erzählt, auch weil man damals ein Stück altes Worpswede zu Grabe trug, von dem sich die meisten wohl allzu gerne verabschieden wollten.
Mai 1953: Mackensens Begräbnis, danach gehen die Künstler kegeln (Über Liebe, Schuld und Marie)
Ein warmer Platzregen war über dem Friedhof herniedergegangen, und gleich danach hatte sich die Sonne ihren Weg durch die Wolken gebahnt. Der Himmel sah in seiner hell-dunklen Zerrissenheit aus wie bestellt für den großen Worpsweder Landschaftsmaler.
Gleich hinter dem Sarg lief Martha Vogeler, ehemaliges Topmodell und erste Frau Heinrich Vogelers, begleitet vom schönen Kunsthistoriker Hans Hermann Rief. Dahinter kamen die beiden Maler- und Dichterbrüder Uphoff, der Fotograf Hans Saebens, die Maler Wilke, Rohde, Dodenhof, Krummacher und Müller; die Galeristen Cetto, Netzel und Pinkus, letzterer Sohn eines jüdischen Textilindustriellen, mit einer Armagnac-Flasche unterm Arm eher feiernd denn trauernd. Es folgten der Komponist Ernst Licht, sämtliche Schülerinnen Mackensens und Liesel Oppel, die wundersame Malerin, begleitet von ihrem hochgewachsenen Besuch aus dem Atlasgebirge, einem muslimischen Mann mit Turban, was als kleine Rache am deutschnationalen Mackensen gewertet wurde, den sie nicht ausstehen konnte. Dazwischen einige Ex-Kulturgauleiter aus Niedersachsen und Weser-Ems, die Christ- oder Sozialdemokraten geworden waren; die Feuerwehr, der Schieß- und Schützenverein, der Männergesangsverein, die Torfschiffer, sämtliche Worpsweder Großbauern von Behrens über Monsees bis Wendelken, dazwischen: Paul Kück mit Greta, Tochter Johanna, fünf Kücksöhnen, Hilde mit dem kleinen, debilen Nullkück. Anwesend auch die gesamte Familie Stolte etc. pp. Dieser Tag war wie ein Panorama der alten Worpsweder Gesellschaft.
Die Trauergemeinde zog rechts an der Zionskirche vorbei, schwenkte am nächsten Hauptweg ein kleines Stück nach links und hielt vor der Gruft.
»Kunst ist die Spiegelung der Natur in einer Menschenseele. Wie die Seele, so die Kunst«, stand auf dem Grabstein, den ein Konkurrent von Paul Kück angefertigt hatte.
»Langweiliger Grabstein«, murmelte Kück, als er eine Schaufel Erde auf den Sarg schüttete, dann kondolierte er der Witwe. An das Grab trat auch der Dichter Gottfried Benn aus Berlin, der nicht so richtig wusste, was er dort sollte, er begleitete nur seine junge Geliebte aus Worpswede. Greta befand sich etwas abseits mit den Kindern und der siebten Frau des Gesamtkünstlers Tetjus Tügel. Noch beim Verlassen des Friedhofs behauptete Greta, sie sei das Modell für die »Moormadonna« auf dem Mackensen-Bild. Sie sagte es zu mehreren Trauergästen, was Paul Kück hörte und schon kurze Zeit später
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