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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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schwängert, lässt man sie doch nicht von der Gestapo abholen?«, es war wieder Paul Kück, der diese Frage stellte.
    »Ich höre auf dem einen Ohr nichts mehr, es wird immer schlimmer. Was hast du gesagt?«, fragte Krummacher.
    »Wenn man eine Frau liebt, dann lässt man sie doch nicht verschwinden!«, wiederholte Kück lauter.
    »Ach so. Hm. Naja«, sinnierte Krummacher. »Wenn man gleichzeitig eine deutsche Ehe führt, dann vielleicht schon«, Krummacher wurde zwar immer tauber, aber er hatte einen guten Blick für die Verhältnisse der Menschen.
    »Man muss sich Hertha Mackensen, gebürtige Stahlschmidt, doch nur anschauen! Der alte Fritz hat sich verrammelt, schwupp, schwanger. Wenn eine Stahlschmidt das rauskriegt, ist Feierabend. Und schon ist die andere verschwunden. Nicht wegen ein paar zurückgegebener Mutterkreuze!«, erklärte natürlich Tügel und hielt Kück die Kugel hin. »Was ist denn das hier für ein Männerabend? Wenn du jetzt alle umhaust, spendiere ich 'ne Buddel und 'ne Jungfrau! Oder braucht ihr erst alle Samen aus Indien?«
    »Wie ihr redet! Macht die Sache nur immer kleiner!«, sagte Fritz, der jüngere der Uphoff-Brüder. »Ihr wisst doch, was in unserem Dorf für Sitten herrschten!«, Fritz hatte ein blasses, anklagendes Gesicht. »Erinnert ihr euch noch an den Juden, der den Tennisplatz hatte?« Er bekam jetzt auch dünne Lippen und sah seinen älteren Bruder an. »Irgendwann war der Jude weg und wir haben Tennis gespielt. Aber wer von euch hat gefragt, wohin er verschwunden ist? Wenn wir darüber reden, warum Menschen verschwinden konnten, dann sollten wir uns anschauen. Wir haben Tennis gespielt. Das ist keine zehn Jahre her. Das waren wir! Tennis gespielt!«
    Es war so still unter den Männern, dass Fritz einfach seine Kugel in die Bahn rollte und alle Kegel umwarf, was ihm noch niemals zuvor gelungen war. Die Männer lösten die Anspannung im Beifall auf.
    »Jeder, der überlebt hat, ist also schuldig geworden? Ist es das?«, fragte der ältere Uphoff mitten in den Applaus für seinen Bruder hinein. »Es tut mir leid, dass ich mich nicht so verhalten habe, dass ich getötet werden musste. Aber du, Brüderchen, du lebst ja auch noch ganz gut.« Er bezahlte seine Getränke und zog die Jacke an.
    »Übrigens«, sagte er beim Gehen: »Der König der Kolonie macht ein Kind mit der Frau eines Bauern, der an der Ostfront kämpft? Die Geschichte habe ich irgendwo schon mal gehört.«
    Paul Kück wog derweil seine Kugel, kurz vor dem Wurf, nachdenklich in der Hand. »Wie schade, dass man Marie nicht mehr fragen kann«, sagte er.
    »Vielleicht taucht sie ja eines Tages wieder auf? Mit einem Millionär aus Amerika!« sagte Tügel und lachte.
    »Ja, vielleicht«, sprach Paul Kück vor sich hin.
    Dann sah er dem fast lautlosen, immer schnelleren Lauf seiner Kugel nach.
     

Ohlrogge liest Zeitung, gerät außer sich und läuft zu den Kühen
    Peter Ohlrogge hatte die Nacht im Don-Camillo-Club verbracht und war mit dem Duft einer Frau, die sich Sylwia nannte und deren Leben er kaum kannte, zurückgekehrt und in sein Bett gekrochen.
    Am späten Vormittag saß er aufrecht da und sah auf seine Hände. Sie schienen kleiner geworden zu sein mit der Zeit, dachte er, wie alte fremde Hände lagen sie auf der weißen Bettdecke.
    Er sah sich im Zimmer um. Überall standen Bilder, ungefähr zwanzig an jeder Wand, auch in der kleinen Küche und im Badezimmer, alle mit der Bildfläche nach hinten, eines an das andere gelehnt. Er drehte nie eines um. Er wollte sie nicht sehen.
    Seine letzte Ausstellung war vor 27 Jahren gewesen. Frau Schröter hatte ein Bild verkauft, sie hatte es selbst gekauft, wie er später bemerkte, als er bei ihr zu Hause zum Abendessen eingeladen war. Sie schlug vor, ihn wegen des Regens nach Viehland zurückzufahren, da stand es in der Garage. Sie machte schnell die Scheinwerfer wieder aus, aber er hatte es schon gesehen. Sie schwieg und fuhr ohne Licht aus der Garage.
    Seine Staffeleien benutzte er nur noch zum Aufhängen der Wäsche. Auf dem Tisch standen die alten Farben, Blautöne und Pinsel, aber er brauchte sie nicht mehr. Nur für die Terpentinflasche hatte er noch Verwendung. Wenn die Wellbrocks wieder güllten, öffnete er die Flasche und dann kämpfte das Terpentin gegen die Gülle an wie er gegen seine Erinnerungen, doch immer war die Gülle stärker.
    Er roch an seinen Händen und Haaren, ob etwas von dieser Sylwia aus dem Club geblieben war, der Duft war sein einziger

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