Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
Gefährte, der ihn nach Hause begleitete. Er konnte den Duft umarmen wie eine Geliebte und presste dabei seine Glieder fest aneinander. Am Morgen war sie dann weg.
Er stand meist spät am Vormittag auf und holte sich die Zeitung ins Bett, die in der Regel vom Regen nass geworden war. Später fuhr er mit dem Fahrrad zu seinem Bäcker, kaufte zwei Brötchen und setzte sich zu Hause an den Tisch.
Wenn das Telefon klingelte, war es die Malschule. Sie rief ein paarmal im März an, um die Termine für den Frühling und Sommer durchzugeben, den Rest des Jahres klingelte das Telefon nicht. Ohlrogge überlegte oft, es abzumelden und das Geld für die Grundgebühr besser im Don-Camillo-Club zu lassen, aber er hing an dem Anschluss, so als habe er es noch nicht aufgegeben mit der Außenwelt.
Manchmal rief er Nummern an, die er in kleinen Anzeigen in der Zeitung fand, und landete in Karussellen mit Frauenstimmen. Er besaß kein Telefon mit einem modernen Tonwahlsystem und konnte sich deshalb zu keiner der Frauen live durchstellen lassen. Er verweilte dann in den Endlosschleifen mit den heißen Tonbandstimmen.
Was noch?
Manchmal trug er Igel und Hasen, die versucht hatten, die Straße zu überqueren, auf seinen alten Malplatten in die Wiesen. Er grub Gräber und hielt kleine Trauerreden, bei denen er regelmäßig weinte.
Oft erschrak er, wie laut es war, wenn er in seiner Stille zu Hause die Brötchen aß. Wenn er seinen Ellenbogen vom Tisch nahm, um zu der meist schon dunkelgelben Butter zu greifen, wackelte es. Es wackelte schon seit zwanzig Jahren, und wie oft hatte er etwas suchen wollen, ein Stück Pappe, ein Stück Holz, um es unter den Tisch zu schieben, aber irgendwie fehlte ihm die Kraft.
Ohlrogge stand auf, lief vor die Tür und holte die Zeitung. Die kleine Meldung auf der ersten Seite traf ihn wie eine der Gewehrkugeln damals im Garten, kurz nachdem sich Johanna von ihm getrennt hatte.
Paul Kück wird Künstler des Jahrhunderts (KDJ). Lesen Sie Seite 7 dieser Ausgabe.
Ohlrogge zerriss die regennasse Zeitung in mehrere Stücke bei dem Versuch, auf Seite 7 zu gelangen. DIESES SCHWEIN VON PAUL KÜCK WIRD KÜNSTLER DES JAHRHUNDERTS!?!
Er las Seite 7 gar nicht mehr, er hatte ohnehin für dieses Jahr mit Fritz Overbeck gerechnet, mit Clara Westhoff oder Otto Ubbelohde. Auch Bernhard Hoetger und Tetjus Tügel hätte man sich denken können, vielleicht wäre auch die Zeit reif gewesen für Richard Oelze! ABER KÜCK?!? Ein bildhauernder Handwerker, der historische Denkmäler anfertigte und der ihn mit einer Bockflinte für Maulwürfe eiskalt über den Haufen schoss??! Und der ihn obendrein mit 22.770 Mark für Gartenpflege und Skulpturenreinigung ruinierte und für den Rest seines Lebens zu Malstunden mit Hobbykünstlern im Moor verurteilte?!!
Ohlrogge sah wieder alles vor sich: das Gartenfest, den hinterhältigen Paul-Kück-Schuss, dieses Klacken und Wegschlagen seines Arms, dann erst der Knall in den Ohren, danach: das Blut, das Loch, Johanna, die eben noch dagesessen hatte mit leicht geöffnetem Mund, den fremden Kuss erwartend, der jetzt einsetzende reißende Schmerz, die Atemnot, die Hasenmenschen, der Goya-Vergleich, das Abhängen seiner Bilder bei Schröter usw.. Er sank neben sein Bett.
Die Skulpturen! Die Scheißskulpturen hätte man doch sowieso irgendwann reinigen müssen, dachte er, er wusste noch auswendig, wie das sündhaft teure Reinigungsvorhaben in der Forderung umschrieben gewesen war: ANWENDUNG EINER SPEZIALPASTE (MÜNCHENER FABRIKAT) So eine Ungeheuerlichkeit!! Für die Gülle brauchte man keine SPEZIALPASTE AUS MÜNCHEN, da hätte ein normales Abspritzen mit Wasser gereicht! Er lief rot an vor uralter Wut, so als hätte sich das Ganze erst vor fünf Minuten abgespielt.
Auch die grüne Patina, die Sulfate und basischen Kupferchloride, die sich auf der Bronze nicht durch die Gülle, sondern durch die Zeit gebildet hatten, ließ Paul Kück mit der Spezialpaste aus München abtragen, was nicht nur ungeheuerlich war, nein, es war auch kriminell, da war sich Ohlrogge sicher, denn wieso sollte er für die Korrosionen der Zeit aufkommen, für die Zeit konnte er ja nichts! Trotzdem wurde das kunstlose Kück'sche Gesamtwerk durchpoliert mit seinem Geld, mit seiner Energie und seiner Existenz! An seine Blautöne, an die teuren Ultramarinfarben war nicht mehr zu denken, geschweige denn an echtes Ultramarin aus Lapislázuli! Er konnte sich keine einzige Tube mit Lapislázuli mehr leisten, als Kück
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