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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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anfing, mit der Spezialpaste zu polieren! Sogar Skulpturen, die nicht betroffen waren und etwas weiter abseits der Hochzeitsgesellschaft gestanden hatten, wurden poliert, ebenso Goethe, Schiller und Immanuel Kant! Sie hatte es im Garten nicht einmal gegeben, standen aber dennoch auf der Reinigungsliste! Paul Kück machte es so, wie wenn man dem Falschen hinten drauffährt und am Ende ist es nicht nur die Stoßstange, sondern das Heck, die Achsen, die Lenkung, die Vorderhaube, der Motor, das ganze Auto, in diesem Fall: Goethe, Schopenhauer, Sepp Herberger, die Gebrüder Grimm, Hildegard Knef, Karl der Große, Liselotte Pulver, Rosemarie Nitribitt, Rudolf Diesel, James Bond! Wer ihm so gerade einfiel, tauchte auf und trieb die Kosten und die Menge der beanspruchten Spezialpaste in die Höhe, von der sich andere Worpsweder Bildhauer wahrscheinlich nur ein paar Tuben in ihrem Leben leisten konnten. Unfassbar, dass das alles so durchging! Was hatte denn Paul Kück mit James Bond zu tun?? - Nichts! Rosemarie Nitribitt, wo war die denn im Garten?? Nirgendwo! Als ob eine ermordete Edelhure so einfach in Greta Kücks Garten neben ihrem Blätterfall-Rilke gestanden haben könnte! Aber nein, im Schadensbericht war das egal, da ging es nur darum, der Münchener Spezialpaste tonnenweise habhaft zu werden! Gier! Diese Gier! Diese kriminelle Gier auf Kosten eines anderen!
    Ohlrogge musste nach Luft schnappen.
    Überhaupt, was für ein Begriff: KÜNSTLER DES JAHRHUNDERTS, und dann einer, der mit SPEZIALPASTEN betrügt und ausbeutet und mit BOCKFLINTEN AUF ANDERE KÜNSTLER SCHIESST, DIE SICH WEGEN IHM KEINE NEUEN FARBEN MEHR LEISTEN KÖNNEN!
    So viel Fencheltee oder gedörrte Früchte konnte Ohlrogge gar nicht einnehmen, wie ihn diese Zeitungsmeldung mit all ihren Ursachen und Wirkungen verstopfte.
    Er lief mit der Zeitung und im Schlafanzug bis zur Wellbrock-Wiese, auf der die Kühe das Gras kauten, Speichel bildeten und zwischen ihren vier Mägen hin und her verdauten.
    Ihm fielen immer weitere Details ein: Der Vater seiner alten Liebe, er wolle es selbst machen, hieß es damals plötzlich. Er wolle seinen Garten selbst ausheben und reinigen, neu mit Frischerde auffüllen und Gras säen. Er nahm den Schadensersatz für den überhöhten Nitratgehalt, das Geld für sechshundert Kubikmeter Frischerde, Saatgut und sechs Wochen Arbeitslohn von drei Mann eines Meistergärtnereibetriebes - UND LIESS DANN ALLES, WIE ES WAR, IN SEINEM SCHEISSGARTEN. - Er war schuld, er ruinierte ihn, weil er ihn hasste, seitdem er, Ohlrogge, mit seiner Tochter geschlafen und sich am Ende auch noch auf seinen reservierten Stuhl gesetzt hatte!
    DER RESERVIERTE STUHL, schoss Ohlrogge durch den Kopf] Vielleicht war der Hass aus der Geschichte mit dem reservierten Stuhl entstanden.
     
     
    Sommer 1967: Geisterstunde bei den Köcks
     
    Im Moor wacht er früh auf, weil ringsum die Vögel in den Birken singen. Er setzt sich auf die Fensterbank und beobachtet Johanna, die sich im Bett diagonal ausbreitet. Die eine Hand liegt auf ihrer nackten Schulter, der andere Arm ist durchgestreckt. Ein Bein überragt das Bettende, sodass ein zierlicher Fuß mit rot lackierten Nägeln übersteht; das andere Bein ist angewinkelt und umschließt die Decke.
    Er sitzt auf der Fensterbank und fragt sich, ob es Frauen gibt, die sogar im Schlaf wissen, wie sie besonders schön aussehen. Dann schaut er nach draußen in den Moorgarten.
    Ihr Vater sitzt bewegungslos in einem seiner thronartigen, von Heinrich Vogeler entworfenen Jugendstil-Stühle. Um Punkt sechs Uhr steht er auf, schreitet langsam auf die Marie-Skulptur im Garten zu und senkt leicht seinen Kopf. Er geht zurück, erreicht die Gartentafel, rückt den zweiten Heinrich-Vogeler-Stuhl vor, auf dem aus unerklärlichen Gründen sonst nie jemand Platz nehmen darf, und setzt sich wieder in seinen eigenen Thron. Nach einer Weile, in der er wie entrückt den zweiten Stuhl angestarrt hat, hebt er leicht seinen Arm und ruft: »Hol Butterkuchen!«
    So geht das wochenlang. Jeden Morgen, sechs Uhr: sitzen, auf Marie zuschreiten, erneut Platz nehmen, dann der fast gespenstische Ruf »Hol Butterkuchen!«
    »Wach auf!«, sagt Ohlrogge, er versucht Johanna zu wecken. »Dein Vater begrüßt jemanden im Garten, aber da ist niemand!«
    »Ich warne dich. Lass uns in Ruhe«, sagt sie und zieht die Decke über ihren ganzen Körper.
    Eines Morgens springt er im Rücken des Vaters von der Fensterbank und setzt sich auf den verbotenen Stuhl, auf dem

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