Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
Vom Netzwerk:
nur das Unsichtbare Platz nehmen darf.
    Als der Vater wieder zurückkommt, sieht er dessen Augen: aufgerissen, dunkel flackernd, dann leer und immer kälter, mondähnlicher werdend - sie sehen ihn an wie die Augen eines Mannes, dem man nicht nur den Stuhl, sondern das Leben genommen hat.
    Er hält dem Blick des Vaters nicht mehr stand und schaut weg. Er steht jetzt in einem Garten in Sibirien. Kalter, weißer Boden. Eiswinde.
     
     
    Sommer 1967: Die Funktion des Orgasmus von Wilhelm Reich (Danach: Trennung und Rausschmiss)
     
    Einen Tag später schlafen sie miteinander und Johanna fängt dabei wieder mit ihren Atemübungen an, den richtigen Beckenbewegungen, ihr Fachbuch liegt aufgeschlagen daneben.
    »Wie soll man in einem Haus, in das jeden Morgen Gespenster kommen, die richtige Atemtechnik lernen?«, fragt er, um eine Art Testballon zu starten, nachdem ihm die merkwürdigen Szenen im Garten keine Ruhe lassen.
    »Mein Vater ist Sozialdemokrat, du Arschloch! Kümmere dich lieber um Vietnam!«, sagt sie mitten in ihren Beckenbewegungen, die ihm ohnehin vorkommen, als wolle sie den Sex im Hause ihres Vaters durch die Übungen aus dem Fachbuch verharmlosen.
    »Ich habe doch nur gefragt, wie ich atmen soll. Was hat das mit Sozialdemokraten und dem Vietnam zu tun?«, flüstert er, er weiß wirklich nicht, wie sie darauf kommt, und hört ihren Vater direkt vor dem Zimmer auf den knarrenden Dielen hin und her gehen. »Lass uns mal woanders bumsen. Hier geht das nicht. Vielleicht fahren wir irgendwohin. Wir könnten morgen ans Meer«, schlägt er vor, denn der Vater muss beides vernommen haben, den fachgerechten Sex nach Wilhelm Reich und die Unterhaltung, überhaupt: Wann immer sie miteinander schlafen, hört er den Vater auf den Dielen des Hauses umhergehen wie einen Wachposten. Es ist, als schliefen sie immer zu dritt.
    Ein paar Tage später packt Johanna Kisten. Sie wirft alles lieblos zusammen. Und ihr Vater trägt Kiste für Kiste eigenhändig aus dem Haus und auf den Teufelsmoordamm, während Nullkück in seinem Zimmer sitzt und durch das Fenster sieht. Am Ende werden auch die Bilder aus dem Haus getragen, diese weiten Ohlrogge-Himmel, vor denen man früher stand und den Atem anhielt, weil man glaubte, eine riesige Kraft würde über einen hinwegeilen. Nun stehen sie alle auf dem Damm neben seinen traurigen Kisten. Es ist gewissermaßen Ohlrogges letzte große Ausstellung.
     
     
    Paul beginnt zu graben und kann wieder nicht atmen (Und Bauer Renken kommt seit 1945 mit der Milch)
     
    Paul lag am Nachmittag in seinem Hochbett und schlief. Brüning, der ihn am Morgen um sieben aus dem Bett geholt hatte; die Kunstschau mit ihren Bildern, ja, wahrscheinlich hatten ihn die Moorbilder müde gemacht, die Heimat machte sowieso müde; vielleicht war es auch sein Kindheitsbett, in dem er sich in der Nacht mehrmals drehen und wenden musste, um die richtige Position zu finden.
    Um zwei Uhr wachte er durch einen Spatenstich auf. Brüning junior stand direkt am Fenster, ganz wie der Vater, und sah zu, wie Paul die Augen aufschlug.
    Bestimmt ist er schon zu Tisch gewesen und hat zu Mittag gegessen!, war sein erster Gedanke. Bestimmt haben die Brünings Gardinen, dachte Paul als Zweites, denn ein Worpsweder ohne Gardinen würde niemals so durch die Fensterscheibe glotzen mit einem Spaten und einer Stechschaufel in der Hand.
    »Moin«, sagte Paul.
    »Mahltiet«, sagte Brüning junior, er konnte nur der Sohn von Jan Brüning sein, er sah genauso aus: kugelrund schon mit zwanzig, der dunkelblaue Arbeitskittel, aus dem das Stofftaschentuch heraushing, dazu die Gummistiefel, die Mütze, darunter das ebenfalls sehr runde Gesicht mit blauen Augen.
    »Heißt du Karl oder Ernst, Karl-Ernst oder andersrum?«, fragte Paul, es war gar nicht so schwierig, es gab nur diese vier Namen zur Auswahl: Der Großvater hieß Karl-Ernst Brüning, dessen Sohn Jan Brüning hatte den Betrieb übernommen und die Enkel mussten Karl, Ernst, Karl-Ernst oder andersherum heißen, das war ja bei den Kücks auch so, die Familien hier hatten wirklich etwas von diesen Schachtelpuppen.
    »Karl«, antwortete er. »Mien Broder Ernst schüffelt op de anner Siet.«
    »Aha. Logisch. Ich heiße Paul. Ich ziehe mir Gummistiefel an, und dann helfen Nullkück und ich mit. Ich hoffe, ihr habt noch Spaten und Schippen.«
    Er schlüpfte in seine Hose, nahm den Kostenvoranschlag der Firma Brüning und lief ins Badezimmer. Er spülte eine Spinne ins Waschbecken und rechnete beim

Weitere Kostenlose Bücher