Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
endlich zugab: MAMA, DU HAST JA RECHT! MEINE PROJEKTE LAUFEN NICHT UND MEIN BRUNNENSTRASSEN-PROJEKT MIT DEM HALMER-PROJEKT WIRD NIE LAUFEN, DER MALER IST JA AUCH NOCH BLIND, ICH BIN SO BLÖD, ICH STELLE EINEN BLINDEN MALER AUS! - und er deshalb nicht alles Geld aus der Lebensversicherung ins Haus pumpen könnte, allenfalls ein Viertel, er brauchte ja auch Geld für das Leben in Berlin? Er könnte doch nicht mit Nullkück zusammenziehen, im Moor sitzen und fortan nur noch Buchweizenpfannkuchen essen und allmählich wieder selbst ein Kück werden? Er überlegte, ob er seinen Vater in Amerika informieren sollte, schließlich hatte der auch einmal in diesem Haus gelebt, umsonst, und jetzt war er reich, in der Automobilbranche, und saß gemütlich am Michigansee.
Der Weberknecht bewegte sich in kreisenden Bewegungen auf den Abfluss zu und schien nunmehr unfähig, jemals wieder von unten heraufzukriechen.
Paul lief in den Garten, wo Nullkück und die Brüningsöhne schon damit begonnen hatten, die Abzugsgrippen vor den Giebelseiten des Hauses auszuheben. Vom Ost- und Westflügel klangen die Stechgeräusche der Spaten und Schaufeln herüber und ergaben sogar, wie Paul bemerkte, einen gemeinsamen Takt.
Er legte sein Handy in die Schubkarre, nahm eine Stechschaufel und stach einen Tag nach Ankunft in der Heimat mit energischem Schwung ins Moor. Als er die erste Schaufel mit der bleischweren Erde ausgehoben hatte, gluckste und zischte es aus der Spalte, bis das Moorwasser nachsickerte. Er versuchte in den Takt der anderen zu kommen, stach wieder hinein, hob die Schaufel, die ihm beim zweiten Mal schon schwerer geworden war, und es gluckste und zischte noch lauter. Bei der ungefähr zwanzigsten Schippe schien das Moor zu singen.
Paul starrte in die Schlammlöcher. Seine Augen tränten, das Atmen wurde immer schwieriger. Seine Moorallergie war zurück.
Die Moorallergie! (Und das schreckliche Lachen von Bauer Gerken)
»Junge, du kannst keine Moorallergie haben, weil es so etwas gar nicht gibt!«, hatte seine Mutter gesagt und der Worpsweder Dorfarzt dies 1973 bestätigt.
»Die sogenannten Bleichmoose, Frau Kück, gelten als ungemein gesundheitsfördernd! Torf- oder Bleichmoose produzieren Gerb- und Huminsäure und gedeihen besonders gut im sauerstofflosen Moor, man sollte darin unbedingt baden!«
»Davon bin ich überzeugt«, sagte Pauls Mutter.
»Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Kück. Unsere Moorleichenfunde aus Heudorf und Hüttenbusch«, führte der Dorfarzt aus, »diese Funde wurden über die Jahrtausende durch die Bleichmoose gut konserviert, weil sie in der Lage sind, jede Bakterie zu töten.«
Sie töteten auch fast alle anderen Pflanzen in Pauls Heimat, darum wurde die Gegend auch »Dovelsmoor« genannt, »Taubes Moor«, später »Teufelsmoor«. Nur ein paar Heidekrautgewächse konnten dort leben: die Krähenbeere, die Rauschbeere, Blaubeere und die Glocken- und Besenheide, das schmalblättrige Wollgras und der Fieberklee, das war's, vielleicht noch der Gagelstrauch. Der Rest ging neben den Bleichmoosen unter. Sogar die Bleichmoose selbst starben unten herum ab und verwandelten sich zusammen mit Sumpfgräsern, Seepflanzen und den Körperchen von jahrtausendealten Insekten, Käfern, Knochen und Fischgräten zu Torf, zum Teufelsmoor - zu einem sauerstofflosen, keimfreien Grab, das deshalb noch heute Auskunft über die Vergangenheit gab.
»Vielleicht kann ich nicht atmen, weil das Moor keine Luft hat?«, fragte Paul.
»Das ist Unfug«, antwortete der Arzt. »Lass dir mal den Roten Franz aus Heudorf zeigen! Der Rote Franz besitzt noch nach über 1000 Jahren rosige Wangen und Haare auf dem Kopf. Sogar das Zahnfleisch ist gut. Keine Parodontose!«
»Ich danke Ihnen«, sagte Pauls Mutter. »Das Moor hat das Wasser und das Wissen alter Zeiten gesammelt und es hat eine Heilkraft, die man nicht einmal mit der Blauen Lagune auf Island vergleichen kann, mein Schatz. Es kommen andere von weit her, um hier bei uns im Moor zu sein.«
»Vielleicht kann ich nicht atmen, weil Marie auch noch im Moor ist?«, fragte Paul, weil er wirklich nicht atmen konnte.
»Was erzählst du da für Märchen? Marie ist abgeholt worden!«, antwortete seine Mutter, und er dachte wieder an das grausige Lachen von Bauer Gerken ein paar Tage zuvor.
Paul hatte zugesehen, wie Gerken mit dem Trecker eine Kuh von Bauer Semken aus dem Moor zog, die in den Graben gefallen war. Semken sprang noch mit dem einen Ende eines Seils hinein und
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