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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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tauchte unter der Kuh hindurch. Als Gerken sie dann mit Vollgas herausgezogen und gerettet hatte, stieg er vom Trecker und sagte, dass das Teufelsmoor schöne Moorleichen habe. Man könnte ja mal nach Marie suchen, die würde er auch gern mit seinem Hanomag da herausholen.
    »Marie war die einzige Kommunistin in unserer Familie und wurde abgeholt«, erklärte Paul dem Bauern, immer noch mit Problemen ab der zweiten Silbe.
    Danach stieß Bauer Gerken mit einem grausigen Lachen und den Worten »abgeholt, abgeholt!« einen seiner Gummistiefel in das Moor.
     
     
    »Hörst du, wie es singt?«, sagte Paul, weil es ihm unangenehm erschien, im Garten tatenlos herumzusitzen, während der andere die Abzugsgrippen schaufelte.
    Karl sah ihn mit blassblauen Augen an, nahm sein zerknittertes Stofftaschentuch, das noch größer war als das seines Vaters, und schnäuzte sich. Er schnäuzte so stark, dass Pauls Stechschaufel vibrierte.
    »Also, es singt natürlich nicht wirklich, das Moor, aber es macht manchmal so seltsame Geräusche. Sag mal, du kommst aus dem Moor, ich komme aus dem Moor, wir graben zusammen Abzugsgrippen, und da würde ich dich mal gerne fragen: Hast du eigentlich auch diese Moorallergie? ...«, aber das Schnäuzen wurde noch heftiger und lauter, so als ob es den Dialog ersetzte. Oder vielleicht war es auch der Dialog, vielleicht lag in diesem Schnäuzen etwas wie Sprache, Ausdruck und eine Sicht der Welt, in die sich Paul erst wieder hineinfinden musste.
    Der alte Bauer Renken kam wie früher mit der Milch. Er trug seinen tiefblauen Kittel, dazu Mütze und Pettholschen, diese typischen breiten Holzschuhe, die aussahen wie Bügeleisen und die früher die Torfbauern alle getragen hatten, um nicht sofort im heimtückischen Teufelsmoor zu versinken. Die Holschen klapperten richtig, als Renken auf das Holzbrett pettete, das über dem großen Graben lag. Der große Graben zog die Grenzlinie zwischen den Grundstücken von Kück und Renken, und Renkens Pettholschen klapperten seit 60 Jahren über den Graben, wenn er mit der Milch kam. Seit 60 Jahren stellte er die Milchkanne in den Garten neben Marie, und wenn in der Zeitung etwas über Paul Kück gestanden hatte, brachte er auch die entsprechende Seite mit.
    »Mien leve Jonny!«, sagte er meist, »Mein lieber Jonny!«, das hieß so viel wie »Donnerwetter« oder »Düvel!«.
    Pauls Großvater tat dann so, als hätte er die Zeitung noch nicht gelesen: »Na, Renken, wat de Zeitungsfritzen woll wedder schrieven doot?«, fragte er scheinheilig, dabei kannte er jede Zeile.
    »Butscher!«, sagte Renken und drückte Paul die Kanne und die Zeitung in die Hand. Er schien erstaunt, dass aus dem »Butscher« ein Mann geworden war, und tätschelte Paul mit seiner furchigen Bauernhand. Sie roch nach Stall, Vieh und Mist.
    »Vun dien Grootvadder snackt se sogor noch, wenn he al doot is!« Damit meinte er wohl, dass man Pauls Großvater gerade zum Künstler des Jahrhunderts ernannt hatte, obwohl er längst tot war.
    »Ja, das ist ein Ding, Herr Renken, wer hätte das gedacht«, sagte Paul.
    Renken nickte mit dem Kopf und nahm die Milchkanne vom Vortag, die Nullkück stets an den Sockel von Marie platzierte.
    »Butscher!«, wiederholte er und sah Paul immer noch mit staunenden Augen an, so als hielte er das Fortschreiten der Zeit für unerklärlich. Dann klapperte er über den großen Graben zu seinem Hof hinüber.
     

Ohlrogge bleibt bei den Kühen und lässt die Vergangenheit nicht los
    Peter Ohlrogge lief im Schlafanzug um die Kühe herum, die ihn graskauend und desinteressiert anstarrten, sie kannten ihn ja schon.
    »Dieser Verbrecher!«, fluchte er vor sich hin. »Warum werden immer die Verbrecher belohnt? DIESER SPEZIAL-PASTENBETRÜGER VON PAUL KÜCK! BOCKFLINTENKILLER!«
    Wenn Ohlrogge in besserer Verfassung war, erlebten ihn die Kühe ruhiger. Dann saß er auf dem Weidezaun und sah in ihre großen dunklen Augen, die ihn an gemütliche Kinderhöhlen erinnerten, in die er sich zu Hause in Lauenburg verkrochen hatte, wenn er dem Leben der Schuhreparaturen entfliehen wollte. Man könnte sich von der Welt verabschieden und in den Kuhaugen leben, dachte Ohlrogge oft. Diese großen dunklen Augen schienen ihm einen Weg zu weisen ins Innere der Erde oder auf den Grund einer anderen, freundlicheren Welt ohne die Traurigkeit, die ihn täglich umgab.
    Zwischen ihm und den Kühen existierten auch beachtliche Übereinstimmungen: Bis zu neun Stunden pro Tag verbrachten die Wellbrock-Kühe

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