Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
Vom Netzwerk:
damit, das angedaute Gras aus ihrem Pansen heraufzuwürgen und mit unermüdlichen Kaubewegungen zu zerkleinern. Bis zu 30.000 Mal am Tag konnten sie das Hinaufgewürgte immer weiter zerkauen. Bei Ohlrogge hatte bisher keiner nachgeforscht, aber wenn man seine Gedanken gezählt hätte, die jeden Tag um die Vergangenheit kreisten, man wäre bestimmt auf ein ähnliches Ergebnis gekommen.
     
     
    Sommer 1967: Wie er hinter die Ortsgrenze zieht und im Moor versauert
     
    Als auch noch die letzte lieblos gepackte Kiste auf dem Teufelsmoordamm abgestellt wird, ist sein Leben im Arsch. Er fühlt es. Er sieht die traurigen Kisten und spürt einen Riss. Auf der einen Seite: Licht, vergangen. Auf der anderen Seite: Dunkel, beginnend, Dämmerung.
    Er trägt alles zum Westhang des Weyerbergs und baut sich aus Kisten und Bildern eine Höhle unter den Bäumen neben den Maisfeldern. Drei Wochen schläft er draußen, dann zieht er ganz an den Rand, sogar hinter die Ortsgrenze von Worpswede.
    In Viehland, an einer Schnellstraße, hinter einer gefährlichen Rechtskurve, findet er ein 35 Quadratmeter großes, würfelartiges Haus. Umgeben von Kuhwiesen und mit einem mächtigen Baumstamm vor dem Fenster, der das Licht nicht ins Haus lässt, aber immerhin als Rammbock dient für besoffene Autofahrer, die aus der Kurve fliegen. Hinter diesem Rammbock lebt Ohlrogge weiter. Er stapelt die Kisten in die Ecken und deckt seine Liebe mit Tüchern und Bettlaken zu. Die nächsten 35 Jahre stehen sie so da.
    Er tut nicht viel in all der Zeit.
    Zwanzig Jahre lang »Malschule Paula«: Tuben ausdrücken mit Touristen und Hausfrauen, Farben mischen, Pinselauswahl. Moor malen, Fluss malen, Horizont malen. Von April bis November, jede Woche dreimal.
    Wie gern würde er sich wieder verlieben, denkt er oft. In eine fremde, talentierte, ihn neu befeuernde Malschülerin.
    Aber seine Kurse werden bevölkert von Frauen, die vorlaut sind, hässlich, ungeduldig, in ihren Farben herummatschen und sofort drauflospinseln, ohne Zartheit, ohne Empfindung. Eine Zeit lang bringen sie sogar Kassettenrecorder und Aerobic-Sachen mit und machen nach dem Kurs dynamische Bewegungen, sodass die Vögel aufschrecken und sich andere Wiesen suchen.
    Manchmal fragen ihn Kollegen von der Malschule, ob er mitkommen wolle auf Demonstrationen gegen Atomkraft oder Pershing-II-Raketen. Einer Demonstration gegen die Kücks hätte er sich angeschlossen, aber für die Umwelt oder den Weltfrieden fehlt ihm die Kraft. Stattdessen läuft er durch das Moor und schlägt mit dem Stofftaschentuch, das er sich wie alle Männer hier zugelegt hat, gegen Zaunpfähle, manchmal auch gegen Kühe. Er weiß nicht, warum.
     
     
    1989 geschieht etwas: 7 Paula- und 7000 Ohlrogge-Tage (Über die Ruhmsucht der Menschen)
     
    Eine Wissenschaftlerin findet anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Künstlerkolonie heraus, dass die berühmte Malerin Paula Modersohn-Becker im Winter 1906 in einem leer stehenden, kleinen, quadratischen Ziegelsteinhaus in Viehland unterkam, als sie sich von ihrem Mann trennen wollte. Eine Woche wohnte sie in dem Haus und wartete auf Geld für die Fahrkarte nach Paris.
    Im Frühjahr klopft der Tourismusbeauftragte der Künstlerkolonie bei Peter Ohlrogge und betritt feierlich die mit Kisten vollgestopfte Behausung.
    »Hier hat sie also einmal gelebt!«, sagt er, sieht sich etwas naserümpfend um und unterbreitet Ohlrogge ein Angebot:
    »Könnten Sie sich vorstellen, ein feines Appartement in unserer schönen Neubausiedlung zu beziehen, gleich hinter dem Supermarkt, Herr Ohlenbrock?«
    »Ich heiße Ohlrogge. Rogge, nicht Brock!«, antwortet er. Dabei sieht er den Tourismusbeauftragten mit einer Haltung an, die diesen nach ungefähr einer Minute wieder aus der Tür gehen lässt.
    Ohlrogge schwört sich: Nie im Leben wird er Worpswede dieses Haus geben! Er hat es damals für wenig Geld von den Wellbrock-Erben erstanden, weil ihnen der angebliche Defekt des Schleudertankwagens und der absurde Güllepreis, der ihm vom alten Wellbrock abverlangt worden war, aufrichtig leidtat, der junge Wellbrock erwies sich als anständiger Bauer.
    8.000 Mark bietet ihm das Tourismusamt nun plötzlich schriftlich. »Für jeden Paula-Tag, den sie in dem bescheidenen Häuschen lebte, mehr als tausend Mark«, merkt man noch flott an.
    Das ist so pervers wie unverschämt, denkt Ohlrogge. Was wird denn mit den ganzen Tagen, die er in dem Haus gelebt hat, fragt er sich, diese Tage werden wohl gar nicht

Weitere Kostenlose Bücher