Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
miteingerechnet? - So vergessen ist er schon! Er hasst Worpswede für diese Anfrage und dieses widerliche Rechenexempel. Seine kleinen roten Backsteinmauern, die auch von seiner Trauer, Klage und von seinem Leben erzählen - diese Mauern will man jetzt einfach in einer riesigen Paula-Welle vermarkten?! Und wie verlogen! Fast ihr ganzes Leben hatte Paula unter Worpswede gelitten, wie er! Wurde belächelt, nicht anerkannt, auch wie er! Nur jetzt, wo man entdeckt hat, dass sie die vielleicht größte Malerin des vergangenen Jahrhunderts gewesen ist, da kommt plötzlich der Tourismusbeauftragte und will auch noch Paulas unruhige, von Worpswede zermarterten und von Zukunftsangst gepeinigten Tage in seinem Haus vermarkten, nein, nein, nein!
Ohlrogge rechnet: Sieben Paula-Tage stehen im Vergleich zu ungefähr 7000 Ohlrogge-Tagen, und man muss sich auch, denkt er, gegen die überhöhte Ruhmsucht der Menschen zur Wehr setzen, die es nicht interessiert, was jemand in seinem Leben gemacht hat, sondern nur, ob er berühmt war!
Ohlrogge liest nach, was über die sieben Tage von Paula in seinem Haus geschrieben wurde. Viel ist es nicht. Bauer Brünjes hatte sie auf dieses Häuschen aufmerksam gemacht, von dort schrieb sie einen Brief an den Vermieter des Ateliers, 14 Avenue du Maine, wo sie in Paris arbeiten wollte. Ferner wurde ein Dokument aus dem Winter 1906 an ihre Schwester Herma entdeckt:
Sitze in meinem Versteck am Rande des Worpsweder Lebens und warte auf das Geld von Hauptmann. Ich habe Sehnsucht nach der Welt. Otto hat nicht einmal gemerkt, wie ich Kisten packte im Atelier. Er kegelte, er kegelt ständig. Oder sammelt Grashüpfer.
In den Folgejahren kommen sogar Kunsthistoriker und Touristen, die nichts auslassen. Sie laufen auf sein Haus zu und quetschen ihre Nasen an sein kleines Fenster, aber er schlägt von innen mit dem Schnupftuch, mit der Fliegenklatsche gegen die Scheibe oder er hält ihnen die alte Pistole unter die Nase, mit der er einmal Herrn W, den neuen Goya, zu erschießen gedachte.
Im Don-Camillo-Club leiht er sich bei Martha eine Perücke und bindet sie hinten zu einem Zopf. Als er eine Touristengruppe kommen sieht, läuft er ihr mit Pinsel und Perücke entgegen und ruft: »Ich lebe noch, ich lebe noch!
Und wer seid ihr? Seid ihr Rilke oder Otto? Otto, oh, mein Otto, ich bin Paula! Ich habe mich hier versteckt, lass uns noch mal neu anfangen!« Die Gruppe springt auf ihre bei Brookmanns gemietete Kutsche und fährt schnell wieder weg.
In Worpswede nennt man ihn einen Hausbesetzer, einen Geisteskranken. Bei manchen heißt er der »Gülle-Liebhaber«, »Gülle-Ex« oder »Gülle-Rogge«, der das kleine Paula-Haus nicht hergeben will, das in einigen Jubiläumsschriften sogar als »Paulas Emanzipationshaus« gewürdigt wird.
Auch über die Malschule versucht der Tourismusbeauftragte Druck auf Ohlrogge auszuüben, damit er das »Emanzipationshaus« endlich räumt. Ohlrogge setzt sich hin und schreibt einen bösen Brief.
Sehr geehrter Herr Tourismusbeauftragter! Ich habe Ihnen etwas aus dem Worpsweder Kirchenarchiv herausgesucht. Es ist das Protokoll vom 6. August 1911, etwas trocken, aber sehr interessant: »Der Vorsitzende legte nochmals den Antrag über Errichtung eines Denkmals für die verstorbene, auf unserem Kirchhof beerdigte Frau Modersohn geb. Becker, vor. Der Kirchenvorstand lehnt den Antrag ab.« So viel zur Verlogenheit der Menschen. PS: Für 99.000 Mark können Sie das Emanzipationshaus haben, Sie im Ruhm herumpiekender Tourismusgeier, der sich über eine Frau hermacht, der man früher nicht mal einen Gedenkstein geben wollte!
Worpswede, den 11. November 1989
Die Sache mit dem Emanzipationshaus verstärkt seinen Worpswede-Hass und Worpswede-Schmerz. Er kann tagelang dasitzen in erstarrter Unruhe und sich die alten Bilder wachrufen. Von den fundamentalen Umwälzungen in Berlin und Osteuropa bekommt Ohlrogge nichts mit. Er beschäftigt sich mit Schuld- und Opferfragen, er fertigt sogar Ranglisten mit Schuldigen an, die er für sein Scheitern verantwortlich hält. Er ist jetzt 49 Jahre alt, und wegen folgender Personen oder Personengruppen ist sein Leben gescheitert:
1. Paul Kück
2. Johanna Kück (Verräterin meiner Liebe)
Klein-Goya (Herr W.) und seine Münchener Verwandtschaft! (Modisches, oberflächliches Pack)
Der Kulturteil der Hamme-Nachrichten (Siehe widerliche Kritik zu Hasenmenschen im Zeitalter der Angst)
Worpswede-Galerie Schröter (Wankelmütig,
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