Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
ganzen Sommer nicht halten. Warten wir bis Herbst, wenn die Blätter fallen. Vielleicht steige ich dann herab vom Hanomag.
Nullkück, 1968
Nullkück war damals auf dem Gebiet des Briefverkehrs eine Mischung aus Rilke und Rainer Langhans aus der Kommune 1 - und Pauls Mutter wertete den Brief als ein besonderes Dokument, an dem man ablesen konnte, wie Tradition und Moderne, das alte Worpswede und die neuen Zeichen der Zeit selbst in den Liebesbriefen eines Debilen miteinander rangen und zum Ausdruck kamen.
An manchen Briefen schien Nullkück auch sehr zu arbeiten. Die »Steckrüben« im Brief an Else zum Beispiel, sie waren, nachdem er sie wohl mit Hildes Tintentod gelöscht hatte, irgendwann wieder sichtbar geworden und trotzten den chemischen Stoffen, die nicht ewig wirkten. So musste es also in der vom Trecker abgeworfenen Endfassung erst keine »Steckrüben« gegeben haben, sondern nur die Worte: »... wie Du süß und glühend voller Sehnsucht Deine Hände wiegst...«, das »in« und die jeweils letzten Buchstaben von »Deinen Händen« hatte er auch weggekillert, vielleicht empfand Nullkück das Bild mit den Rüben in Elses Händen als zu gewagt und heikel, doch die Zeit brachte es wieder hervor.
Oft machten sich die Bauern über ihn lustig. Er stand dann da, lachte mit, aber er lachte nicht wirklich. Er versuchte länger zu lachen als alle anderen, während seine Augen zu weinen schienen.
»Schön, die Stelle mit dem Vorfrühling«, sagte Paul und gab Karl den Brief zurück. »Deine Mutter sollte sich diesen Brief gut aufheben.« Er tippte erneut in sein Handy und schickte die SMS zum zweiten Mal.
Ist es so schwer ein bisschen liebe zu senden? Oder ist es so aufregend mit euren fliegen?
Danach stach er wieder ins Moor. Aus der Schubkarre klingelte das Handy. »Ist alles in Ordnung?«, fragte Paul.
»Wunderbar, ist schon was über Großvater in der Zeitung erschienen?«, erkundigte sich seine Mutter.
»Ja, Renken war vorhin da mit seinen Klapperschuhen. Ich glaube, die heißen Pettholschen, Petten gleich treten, oder? Mein lieber Jonny, hat er gesagt, wie früher. Er stellt die Milch immer noch bei Marie ab. Und da steht auch jedes Mal die leere Kanne vom Vortag. Ich habe das Gefühl, man hat die Zeit hier einfach angehalten.«
»Aha, ist ja interessant. Was steht denn nun in der Zeitung?« Sie war richtig ungeduldig. Die Sache mit den Pettholschen und der Zeit, die durch die Milchkannen angehalten wurde, interessierte sie überhaupt nicht.
»Moment«, sagte Paul, »ich schaufle gerade im Moor, Abzugsgrippen!«
»Sehr gut! Lies schnell vor und dann schaufle weiter!«, ordnete seine Mutter an.
Für den kommenden Kunstsommer hat die Gemeinde Worpswede zum siebten Mal den Künstler des Jahrhunderts benannt. Die posthume Ehrung, die seit 1997 vergeben wird, fiel in diesem Jahr auf den Bildhauer Paul Kück, dessen Denkmal für den Moorkommissar Findorff zu einem Wahrzeichen der Künstlerkolonie geworden ist. Bericht folgt.
»Wie, mehr nicht?«, fragte seine Mutter. »Das ist alles zum KDJ?« Sie benutzte die Abkürzung KDJ jetzt auch ganz selbstverständlich, wie BRD.
»Die schreiben doch Bericht folgt. Da kommt noch was«, sagte Paul.
»Dass Großvater in einer Reihe mit Rilke steht, hätten sie schon berichten können! Warum drucken sie den Brief, den ich bekommen habe, nicht ab?«
»Weiß ich nicht«, antwortete Paul. »Können wir vielleicht über Festnetz telefonieren? Mein Akku ist gleich leer. Außerdem würde ich dir gern sagen, was die Pfahlgründung kostet, nämlich über 40.000 Euro! Wenn ich davon die Hälfte zahle, habe ich nichts mehr, dann ist das Haus gerettet, aber dafür bekomme ich in Berlin Probleme.«
»Ich habe dir doch gesagt, dass du gerade dabei bist, dein Erbe zu sanieren! Du machst eine gute Investition, das Haus mit dem Grundstück liegt locker bei über einer halben Million. Außerdem kommt nun auch ein Schönes zum anderen, denn wenn du Großvater jetzt auf dem Kunstmarkt handelst, wirst du staunen!«, erklärte seine Mutter voller Überzeugung.
Paul zögerte einen Moment. »Sei mir nicht böse, aber KDJ, das scheint mir eher eine regionale Ehrung zu sein. Ich glaube, der Kunstmarkt kriegt das gar nicht mit.«
»Was redest du da? In einer Reihe mit Rilke und Paula Modersohn-Becker, das ist doch nicht regional, das ist überregional! Überregionaler geht's ja wohl nicht!«
»Mein Akku, ich will's nicht so lang machen, ich wollte nur sagen, dass wir
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