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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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Jahrhunderts« gab es nichts mehr. Er hatte recht und seine Mutter irrte. Es war doch eine regionale Ehrung!
    Aber war das nicht sowieso alles egal, wenn man herausfinden würde, was sie am Nachmittag am Rande des Gartens entdeckt hatten?
    Paul hatte immer noch Nullkück vor Augen, wie er außer sich war vor Aufregung. Bauer Gerken, wie er vor dem Fund stand. Und Malte Jahn, der mit brennenden Augen wegrannte.
    Paul schlug die Zeitung zu und beobachtete, ob der Kellner hinter dem Tresen die Milch für seinen Latte Macchiato wirklich aufschäumte; auch versuchte Paul zu erkennen, ob sich aus dem Gesicht irgendein Gesicht seiner Kindheit, ein vergessener, früher einmal vertrauter Ausdruck herausschälte, aber er sah nichts von früher.
    Vielleicht wohnte der Musiker noch über dem Central? Dieser Geiger, der auf Festen so schön und traurig spielte, dass Paul einmal, als er Kind war, in das Schlafzimmer eines Gastgebers lief, um in die Kissen zu weinen. Er fand die Gastgeberin mit einem Mann vor, dessen Kopf er von den Wahlplakaten der Worpsweder Kommunisten kannte. Das Bett, in dem sie lagen, war natürlich von Heinrich Vogeler, es knarrte und wackelte. Der Kommunist, dachte Paul damals, man muss ihn in Bronze gießen, damit er abkühlt! Er dachte an Marie, an die glühende Frau, die auch Kommunistin gewesen war, aber diese Frau, das war die Frau vom Komponisten, nicht vom Kommunisten, das war doch nicht dasselbe?
    »Sind Sie Kommunist oder Komponist«?, fragte Paul den Mann mitten in sein Stöhnen hinein.
    »Kommunist. Wieso?«, antwortete er völlig verdattert und sich auf der Frau umdrehend.
    Paul schlug danach die Tür zu.
    Mit Kommunisten verband er seitdem Ehebruch. Eine seiner Kinderfragen lautete: Wenn Marie Kommunistin war, hat sie dann auch mit einem anderen Mann im Bett gelegen?
    Er erinnerte sich jetzt auch wieder an Bernhard Haller, der zu allen Worpsweder Festen geladen war. Er trug immer einen schwarzen Kordanzug mit Weste, Taschenuhr und Melone. Er war Maler, fuhr angeblich zur See und sprach auf den Festen mit so lauter Stimme, dass man ihn bis in die Moorwiesen hörte.
    »Ich aß die gedörrten Fische und das gesäuerte Brot der Araber!«, rief er über die Moorwiesen, Paul kannte die Worte auswendig: »Ich schlief in den Matten der Legionäre und hörte das Singen des Sandes von Südmarokko!« Dann kam Pauls Lieblingsstelle: »Ich durchquerte vom Westen her ohne Hemd die Sahara und verehrte die Frauen der Wüste in den Oasen!«
    Viele fragten sich, was er nun in Worpswede machte, aber Paul fand den Hinweis mit den Frauen in der Wüste hilfreich. Im Prinzip spielte Bernhard Haller in der Wüste die Rolle von diesem Gottfried Benn in Worpswede.
    Paul kam der Hemberg in den Sinn, der Geruch von Bratkartoffeln. Die Bergstraße hinunter, vorbei an der alten Post und am Fotofix, lag die von Heinrich Vogeler erbaute Gaststätte zum Hemberg. Im Hemberg hatte Paul früher auf dem Schoß seines Vaters gesessen und zugesehen, wie er Matjesfilet mit Bratkartoffeln aß oder Bratkartoffeln mit Knipp, einem typischen norddeutschen Fleischmix mit Grütze. Jonny, der Chef des Hauses, zapfte Bier. Im Hintergrund standen Bauern am Tresen und tranken schweigend Schnaps, putzten sich die Nasen mit ihren verknitterten Stofftaschentüchern und warfen 50-Pfennig-Stücke in den Spielautomaten, der vor sich hinratterte.
    »Neu hier?«, fragte der Kellner, als er über den knarrenden Boden schlurfte.
    »Wieso? Ich bin aus Berlin«, antwortete Paul und sah, dass der Mann ein Stück seines viel zu langen Pulloverärmels in den Schaum des Latte Macchiato tauchte.
    »Wie ein Tourist siehst du nicht aus. Bist du Stipendiat im Barkenhoff ?«, er blieb mit dem Glas vor Paul stehen. »Gott sei Dank gibt es die Stipendiaten, ich war auch mal einer. Im hinteren Raum hängen Arbeiten von mir. Mischtechniken auf Japanpapier. Und was machst du?«
    »Dein Pullover hängt in der Latte«, sagte Paul, es waren jetzt wirklich Wollflusen auf dem Milchschaum.
    Aus dem hinteren Raum des Cafés klang eine Melodie, er kannte sie irgendwoher. Sie wurde immer schneller und schepperte dabei, so als würde man die Lautsprecher übersteuern.
    »Was ist das?«, fragte Paul.
    »Da spielt einer Gameboy. Kennst du Tetris? Das mit den herunterfallenden Formen? Der hat auch ein Stipendium und spielt den ganzen Tag Tetris, dazu bestellt er Leitungswasser, das ist echt seltsam«, sagte der Kellner, stellte endlich das Glas ab und krempelte seinen flusigen

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