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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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Pullover hoch.
    »Ich habe aber kein Stipendium«, erklärte Paul.
    »Der aber! Der kommt aus Russland. Ich habe den noch nie mit einem Zeichenblock gesehen, immer nur mit Gameboy. Ich kann die Melodie langsam nicht mehr hören.«
    Ein Mann mit weißem Jackett betrat das Cafe Central. Er öffnete den Knoten seines Seidenschals, setzte sich an die Bar und warf Paul einen kurzen Blick zu. Dann zog er ein Buch aus seiner Tasche, »Der China-Code«.
    Paul sah aus dem Fenster. Was für eine Enge er wieder spürte. Dieses Central mit seinen Sonderlingen und Wollflusen und den ganzen Heinrich-Vogeler-Tassen, hier konnte man ja schon deswegen nur aus dem Glas trinken! Aber das war nichts gegen das Moor und die Mariegeschichte, die immer mehr in ihm hochstieg wie ein alter, grausiger Nebel aus der Kindheit. Was war mit Marie geschehen? WAS WAR MIT MARIE GESCHEHEN? Und hatte er nicht nach dem Fund am Nachmittag andere Sorgen als jetzt auch noch die ganzen alten Fragen wieder auszugraben?
     
     
    Herbst 1974, Familiengespräche: Kann ein toter Onkel ein Kind zeugen? Und liegt Marie doch im Moor!
     
    Wieder hatte Paul gefragt: »Was ist mit Marie geschehen?«
    »Marie war zu stolz und unvorsichtig in einer schwierigen Zeit«, antwortete ihm seine Großmutter.
    »Ist sie abgeholt worden, weil du sie nicht mochtest?«
    »Davon wird man nicht abgeholt. Außerdem mochte ich sie doch, aber man gibt nicht einfach beide Mutterkreuze zurück! Da brachte man sie in ein geheimes Lager, selbst Mackensen wusste es nicht. Erst hat er sie geliebt, am Ende hat er sie fallen lassen. So sind die Männer.«
    Paul fragte noch dreimal, warum sie die Kinder von Marie in ein Heim gegeben und nicht selbst behalten hätten, aber jedes Mal hieß es: Es war Krieg. Es gab nichts zu essen. Hätten wir hier alle verhungern sollen wegen ihrer sechs Waisenkinder?
    Malte, der Jahnenkel aus der dritten Klasse, erzählte auf dem Schulhof: »Die Tante von Paul ist früher mit Kissen unter dem Bauch durchs Dorf gelaufen und hat nur so getan, als ob sie schwanger ist!« Und wie durch ein Wunder hätte dann eine Unfruchtbare ein Kind bekommen von einem Onkel, der schon zwei Jahre tot war!
    Da lachten die Kinder, lachten über Paul, obwohl sie sich für solche komischen Geschichten von früher gar nicht interessierten.
    »Du Lügner, dein Großvater ist ja nur ein kleiner Kunsthandwerker, den niemand kennt auf der Welt!«, schmetterte ihm Paul auf dem Schulhof entgegen.
    Zu Hause berichtete er: »Malte sagt, dass Hilde von einem Kissen schwanger war und dann ein Kind bekommen hat von meinem schon zwei Jahre toten Onkel? Ist das ein Wunder oder stimmt das nicht?«
    »So ein Unfug! Warum kann man ihr nicht einfach das Kind lassen!«, schimpfte Greta.
    Am nächsten Tag stand Malte auf dem Schulhof und hatte neue Munition: »Das Kind kommt woandersher! Dein Onkel Hinrich war schon lange tot! Bei uns war der Ortsgruppenleiter der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei!«
    »Was war bei euch?«, fragte Paul verunsichert.
    Malte konnte es kaum aussprechen, er hatte es auswendig gelernt: »Ortsgruppenleiter der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei! Mit der Benachrichtigung für die Angehörigen von Gefallenen!«
    »Versteh ich nicht, du lügst!«, schrie Paul.
    »Der hat bei uns geklingelt wegen dem Bildhauer-Schild, du dummer, krimineller Kück, du Klappspaten!«, schrie Malte zurück. »Eure andere Tante habt ihr im Moor vergraben und die Polizei hat sie gesucht!«
    Die Kinder lachten wieder und Hilde weinte, als sie das hörte. Nie hatte sie eine Benachrichtigung vom Tod ihres Mannes bekommen. Als Pauls Großvater im Sommer 1945 bei der Wehrmachtsauskunftsstelle nachgefragt hatte, hieß es nur, alle Verluste seien über den Ortsgruppenleiter gemeldet worden.
    »Hinrich aber nicht!«, erklärte Pauls Großvater, außerdem konnte man den Ortsgruppenleiter nicht mehr fragen, der hatte sich, zusammen mit dem Schulleiter, aufgehängt.
    Paul Kück wendete sich daraufhin an eine höhere Stelle, schließlich ging es darum zu beweisen, dass Hilde ihr Kind nicht von einem bei der Zeugung bereits toten Mann bekommen hatte, wie es dieser Lügen-Nachbarsjunge behauptete. Allerdings herrschten in der Wehrmachtsauskunftsstelle chaotische Zustände: 1943 war sie von Berlin nach Thüringen verlegt worden, dann, als die Sowjets Thüringen besetzten, von den Amerikanern nach Fürstenhagen bei Kassel, später zurück nach Berlin. Irgendein Beleg oder eine Kopie des

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