Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
plus Fahrt und Unterkunft würde das kosten. Goran und Branko müssten erst noch Rostarbeiten in Brandenburg machen, aber ab Montag könnten sie zu Paulus in den Norden. Und Nullkück hatte Kovac schon gemailt, es war eine Anfahrtsbeschreibung über Hamburg mit der Autobahnausfahrt »Stuckenborstel«, dann B 75 über Ottersberg, Quelkhorn/Fischerhude und Grasberg nach Worpswede.
Am Mittag legte Nullkück ausgedruckte Seiten vor, es schien ihn zu freuen, dass er etwas ausdrucken konnte, was vielleicht benötigt wurde. Als er sich mit den Blättern zu Paul vorbeugte, roch er nach Schnaps, so wie Hinrich und Johan gerochen hatten, wenn sie vom Abschmecken aus dem Schuppen kamen, wo sie den gebrannten Korn und den Himbeergeist mit Wasser vermischten.
Richard Walther Darre, Politiker (NSDAP) * Belgrano (Argentinien) 14. Juli 1895; + München 5. September 1953. Sohn einer deutsch-schwedischen Kaufmannsfamilie. Studierte Landwirtschaft mit dem Schwerpunkt Viehzucht und Vererbungsfragen in Gießen. Sein Interesse fokussierte sich auf genetische Fragen und germanische Stämme. Schon früh lernte er Adolf Hitler kennen ...
Paul las nicht weiter. Wenn er etwas über diese Zeit im Fernsehen sah, im Radio hörte oder wie jetzt den Anfang solch eines Lebenslaufes las - er spürte sofort Widerwillen. Außerdem war es Schulstoff, Ewigkeiten her, schwarzweiß. Er mochte über diese Zeit, über ihre Sprache und Begriffe weder etwas hören noch lesen und schon die »Vererbungsfragen« reichten ihm. Die Welt war bunt, mit so vielen Fragen, aber wenn er in diese Zeit zurückblicken sollte, dann beschlich ihn dieses linienförmige, gleichförmige und abgestumpfte Denken, das sich in so eckigen und kantigen und schwarz-weißen Bewegungen äußerte - es griff über, man wurde selbst eckig und stumpfsinnig dabei. Deutsche Geschichte konnte er nur noch als Karikatur ertragen, als Kinounterhaltung; da konnte man über die Schauspieler sprechen, darüber, mit wem die Eva-Braun-Darstellerin im wirklichen Leben zusammen war und ob sie für irgendetwas damit nominiert wurde. Umso unvermittelter fand er sich nun im Garten vor dem Reichsbauernführer seines Großvaters wieder.
Unter www.kommunistische-debatte.de war Nullkück ebenfalls fündig geworden. Der Reichsbauernminister Richard Walther Darre hatte auch etwas verfasst: »Das Bauerntum als Lebensquell der nordischen Rasse« war eine Schrift, die das altgermanische Bauerntum zum ersten Stand einer künftigen Ordnung machen sollte. Nach dem Freihandel der Juden und der Weltwirtschaftskrise musste wieder das deutsche Agrarland kommen, das aus einem Neuadel aus Blut und Boden und germanischen Bauern bestehen würde.
Kein Wunder, dachte Paul, dass Gerken der Skulptur fast um den Hals gefallen war.
Offensichtlich hatte der Bauernführer auch Worpswede einen Besuch abgestattet. Unter www.cine-holocaust.de gab es Informationen zu einem Film, den das Verwaltungsamt des Reichsbauernführers produziert hatte. »Landvolk in Not« war der Titel, Zensurlänge 148 Minuten, gedreht auf 35 mm / schwarz-weiß. Eine Szene spielt im Teufelsmoor, fast am Ende des Films, wo es dem Volk, laut Drehbuch, dank NS-Herrschaft schon besser geht.
114. Einstellung (Moorlandkultivierung): Bauern heben mit Spaten Gelände aus (Abzugsgräben). Der Reichsbauernminister fährt mit Auto vor, steigt aus und hilft mit. Kleines blondes Mädchen dreht am Zopf. Maler kommt vorbei, grüßt mit Heil Hitler und malt Mädchen mit Minister.
Nullkück hatte Bilder von Richard Walther Darre ausgedruckt, vier verschiedene, alle mit diesen glatt nach hinten gestrichenen Haaren und den kräftigen Augenbrauen.
Paul lief damit in den Garten, zog das Laken weg und betrachtete abwechselnd die Bilder und den riesigen Mann in Bronze: Die Haare, die gänzlich frei geschnittenen Ohren, die großen Brauen, sogar die kleine Furche zwischen Oberlippe und Nase war zu erkennen und identisch! Sein Großvater musste diese Bilder entweder auch gehabt haben oder er hatte den Mann gekannt, dachte Paul sofort. Die Kücks schauten ja gern bei Filmarbeiten zu: Seine Mutter schleppte ihn zum Drehort von »Die bitteren Tränen der Petra von Kant«, vielleicht ging sein Großvater zu den Filmaufnahmen von »Landvolk in Not« und stellte sich dort dem Bauernführer vor?
Paul verglich noch einmal die Bilder und den Mann im Garten. Das war er, eindeutig!, Bauer Gerken hatte ihn erkannt. Und der Bauernführer musste ein Riese gewesen sein.
Er lief
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